Schatten Gottes auf Erden (German Edition)
Barbiergehilfe, sondern war mir später auch behilflich, mich selbstständig zu machen. Es ergab sich bald ganz von selbst, dass ich weniger Bartscherer war als vielmehr Arzt; denn mein Ruf verbreitete sich schnell, nachdem ich einige meiner Kunden von ihren schmerzenden Zähnen befreit, einige üble Hautausschläge mit lindernden Salben geheilt, ja sogar ein Kind, das in den Tiber gefallen und schon so gut wie tot war, durch meine Wiederbelebungsversuche aus der Bewusstlosigkeit erweckt und dadurch gerettet hatte. Die Leute kamen mit ihren Gebresten von nah und fern zu mir.
»Hüte dich nur, einem studierten Medicus in die Quere zu kommen«, meinte Pietro. »Du weißt, dass ein Bartscherer sich lediglich mit der niederen Chirurgie beschäftigen darf, dass aber sonstige Krankenbehandlungen ihm verboten sind. Freilich wird kein Hahn danach krähen, wenn du den armen Leuten, die sich sowieso keinen Arzt leisten können, deine Medizinen verordnest. Aber nimm keine Patienten aus reichen Häusern an – es könnte dir den Neid und die Anfeindung deiner Kollegen eintragen, und es gibt hier sehr einflussreiche unter ihnen.«
Ich ließ es mir gesagt sein.
Bald arbeitete ich von früh bis spät. Doch wenn ich des Abends todmüde auf meinen Strohsack sank, hatte ich wenig verdient. Genug immerhin, um mein Leben zu fristen, ohne Hans Trautenbergers Geld antasten zu müssen. Und was wichtiger war als die paar Kupfermünzen: Ich hatte keine Zeit mehr, mich an mein eigenes Missgeschick zu verlieren angesichts der Leiden, die mir täglich, ja stündlich entgegentraten.
Meine Kundschaft bestand zum größten Teil aus Fischern, Hirten, Tagelöhnern, Söldnern, Handwerksburschen, Bettlern und den dazugehörigen Frauen. Am meisten dauerten mich die Frauen, die fast jährlich ein Kind zur Welt bringen mussten, ohne zu wissen, wie sie Nahrung und Kleidung für diese armen Würmer beschaffen sollten. Wie viel Väter vertranken den kargen Lohn, statt ihn heimzubringen, wie viele Männer vergalten die unermüdliche Plackerei ihrer Frauen mit Grobheiten und Schlägen statt mit Dankesworten. Selbst die Muttergottes in Aracoeli war wohl nicht imstande, alle die Gebete zu erhören, die täglich auf den Knien an sie herangetragen wurden.
Und dennoch bangten diese Mütter um das Leben jedes einzelnen ihrer zehn, zwölf oder noch mehr Kinder, brachten die Fiebernden zu mir, denen der Adlerwind des Winters das Lebenslicht auszublasen drohte, weil ihre Bekleidung zu dünn, ihre Stube zu feucht war, als dass sie hätten ihm standhalten und der Schwindsucht entgehen können. Und in wie viel Fällen hätte ich statt eines Medikaments viel lieber eine andere Medizin verordnen wollen: Weißbrot und Butter, Milch und Eier, Fleisch und Käse – ja, recipe – nimm aber woher?
Am allererbärmlichsten aber war mir zumute, wenn Mädchen zu mir kamen, die mich beschworen, ihnen die Leibesfrucht abzutreiben. In diese vor Kummer und Elend glanzlos gewordenen Augen zu sehn und sagen zu müssen: »Ich kann dir nicht helfen. Die Gefahr ist zu groß. Es sind schon so viele dabei gestorben!«
»Lieber sterben, als in Schande zu leben.«
»Ja, aber bedenkst du nicht, dass es dein Kind ist, dem du das Leben rauben willst?«
»Was für ein Leben raube ich ihm denn – ein gutes oder ein böses? Gerade weil ich es liebe, will ich ihm ersparen …«
Ach, was sollte man dazu sagen? Hätte ich sie verscheuchen sollen mit: »Warum hast du denn aber diese Schuld auf dich geladen? Du wusstest doch, dass Unzucht eine Todsünde ist! Nun trag auch die Folgen.« Nein, das brachte ich nicht über die Lippen. Und die Hilfe musste ich ihnen versagen. Zu gefährlich war sie – nicht nur für die Mädchen, sondern auch für mich selbst.
Ich weiß, dass es Menschen gibt, die diese Gefahr auf sich nehmen. Die meisten wohl um des Geldes wegen, das ihnen ihr Geschäft einbringt. Für gewöhnlich sind es Frauen, die selbst keinen guten Ruf mehr zu verlieren haben und ihr trauriges Handwerk im Dunklen treiben. Ihr Gewissen ist schon so belastet, dass es ihnen auf eine Todsünde mehr oder weniger nicht ankommt.
Mein Gewissen aber? Gibt es etwas Kostbareres als das Gewissen? Doch war es wirklich nur das Gewissen, das mich hinderte, den armen Geschöpfen zu helfen? Ich hatte ja einen guten Ruf zu verlieren. Und hatte immer noch die Hoffnung nicht aufgegeben, eines Tages das zu erreichen, was mir als Lebensziel vorschwebte: mit dem Grad eines Doctor medicinae versehen, ein
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