Schatten ueber Broughton House
Verwundung oder einfach an Altersschwäche. Aber sie altern nicht so rasch wie wir. Tanta, meine Frau, sieht keinen Tag älter aus als ich, doch sie ist bereits hundert Jahre alt. Als sie es mir das erste Mal sagte, habe ich gar nicht verstanden, was sie meinte. Und dann habe ich es ihr nicht geglaubt. Aber je länger ich dort blieb, ihre Sprache lernte und mich mit den Menschen unterhalten konnte, desto gewisser wurde ich, dass sie mir die Wahrheit gesagt hatte. Ihr Vater ist einer der Männer, der damals den Spaniern mit seinem Gold entkommen konnte.“
„Wie ist das möglich?“, wollte Megan noch immer zweifelnd wissen.
„Das weiß ich auch nicht. Die Dorfbewohner glauben, dass ihr Tal verzaubert ist. Sie denken, weil sie einst die Heiligtümer der alten Götter und ihre Religion vor den Spaniern bewahrt haben, hätten die Götter ihnen den Weg in dieses Tal gewiesen.“ Er musste lächeln, als er Megans Miene sah. „Ja, ich weiß, es klingt unglaublich. Aber ich hörte auf zu zweifeln, als ich es mit eigenen Augen sah. Sieh mich an - sehe ich auch nur einen Tag älter aus als damals, da du mich zuletzt gesehen hast?“
„Nein ...“.gestand Megan zögerlich. Von seiner Kleidung und seiner Frisur einmal abgesehen, sah Dennis tatsächlich noch genauso aus wie an jenem Tag, da er vor zehn Jahren von New York aufgebrochen war - als Neunzehnjähriger. Doch er dürfte mittlerweile fast dreißig sein, war er schließlich drei Jahre älter als sie. Widerwillig musste Megan sich eingestehen, dass er indes deutlich jünger aussah.
„Sobald ich erst einmal unter ihnen lebte, hörte auch ich auf zu altern. Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht, woran das liegen könnte, doch ich weiß es nicht. Die Dorfbewohner glauben, dass es an dem Brunnen liegt, dem cenote, aus dem sie ihr Wasser holen. Sie denken, er sei verzaubert. Möglicherweise hat das Wasser ja Eigenschaften, die den Alterungsprozess aufhalten. Vielleicht liegt es auch an den Kräutern, aus denen sie ihre Arzneien bereiten. Zumindest sind deren Heilkräfte außergewöhnlich. Ich wäre sicher an meinen Verletzungen gestorben, hätte mich ein amerikanischer oder europäischer Arzt behandelt. Doch meine Wunden sind geheilt und die Narben kaum noch zu sehen. Und Theo ist ebenfalls genesen. Er war damals sehr krank, und ich fürchtete, er könne demselben Fieber erliegen, das auch Captain Eberhart dahingerafft hatte. Tanta meint zwar, dass die Heilkraft ihr von den Göttern eingegeben wird und es ihr Gesang sei, der die Genesung bringt. Aber ich frage mich doch, ob nicht etwas in den Kräutern diese Wirkung hat. Der Teeaufguss, den sie dir zu trinken gaben, war daraus bereitet.“
„Oh ja, ein widerliches Gebräu“, erinnerte sich Theo und verzog das Gesicht.
„Das stimmt. Sie verabreichen es gegen alle Krankheiten und trinken es bei religiösen Zeremonien. Die Kinder hingegen nehmen an diesen Zeremonien nicht teil, und sie altern ganz normal, was meine Theorie zu bestätigen scheint. Manco sieht doch wie ein normaler Neunjähriger aus, oder nicht? Erst wenn die Kinder zur Reife kommen und an den Zeremonien teilnehmen, beginnt sich ihr Alterungsprozess auf einmal sichtlich zu verlangsamen. Vielleicht haben die Dorfbewohner ja recht, und es ist ein Geschenk der Götter - eine Zauberkraft, die aus dem Wasser und den Kräutern ihres Tales ein Elixier macht, das vor Krankheit und Alter schützt.“
„Ein Jungbrunnen“, murmelte Theo nachdenklich.
„Genau das würde wohl jeder sagen, der von diesem Ort erfährt“, stimmte Dennis zu. „Die Dorfbewohner zahlen für ihre Jugend allerdings einen Preis. Niemand weiß, woran es liegt, aber es gibt im Dorf kaum noch Geburten und somit auch nur wenige Kinder. Wir sind die einzige Familie, die immerhin zwei Kinder hat, was aber vor allem daran liegen dürfte, dass ich nicht im Dorf aufgewachsen bin. Manco wurde bald nach unserer Hochzeit geboren, bis zur Geburt unserer Tochter Caya vergingen drei Jahre, und seitdem hat auch Tanta nicht mehr empfangen. Aber dieser Umstand dürfte die meisten Menschen kaum davon abhalten, das Elixier nehmen zu wollen. Und ihr wisst, was das bedeutet.“
„Ja, die ganze Welt würde plötzlich bei euch auf der Türschwelle stehen“, erwiderte Theo.
„Jeder würde das Wasser und die Kräuter haben wollen. Heerscharen von Menschen würden in das Dorf einfallen und seine Ruhe und seinen Frieden zerstören. Das könnte ich den Bewohnern niemals antun - ich will nicht der
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