Schatten über Oxford
gebracht, und ich denke, er wird nun nicht mehr allzu weit davon abkommen.« Sie wies darauf hin, dass Kate nicht mehr in der Agatha Street wohnte und dass Harley in den vergangenen Monaten auch ganz gut ohne sie zurechtgekommen war.
»Nun ja, sie waren wirklich ganz schön laut«, sagte Kate traurig. »Aber irgendwie hatte ich mich daran gewöhnt. Jedenfalls meistens.«
»Wusstest du, dass Shayla inzwischen angefangen hatte, Saxophon zu lernen?«
»Jetzt übertreibst du aber!«
»Es ist die reine Wahrheit.«
»Wenn das die gute Nachricht war, dann möchte ich die schlechte lieber gar nicht erst erfahren.«
»Du hast neue Nachbarn«, sagte Roz vorsichtig.
»Und? Morris-Tänzer? Satanisten? Überzeugte Anhänger der Konservativen?«
»Er ist Schulleiter im Ruhestand, sie ist Krankenschwester, aber bereits seit einiger Zeit krankgeschrieben.«
»Hört sich doch gut an! Ruhige, kultivierte Leute, die vermutlich viel Zeit damit verbringen, zu lesen oder Scrabble zu spielen. Wahrscheinlich besuchen sie Konzer te und gehören dem National Trust an.«
»Kann natürlich sein«, erwiderte Roz, klang jedoch nicht sonderlich überzeugt. Sie wechselte rasch das Thema, und Kate vergaß bald, was in der Agatha Street vor sich ging. Immerhin lag ihr Haus am anderen Ende der Stadt, und wie es aussah, würde sie die vorhersehbare Zukunft wohl mit George in dessen Haus verbringen. Roz würde sich sicher um das Problem kümmern, sofern es überhaupt eins gab; jedenfalls konnte sich Kate nicht vorstellen, dass es sich um etwas wirklich Ernstes handelte. Ein pensionierter Schulleiter und eine arbeitsunfähige Krankenschwester – Roz schien wirklich etwas zu brauchen, worüber sie sich Sorgen machen konnte.
»Irgendwie finde ich es ganz außergewöhnlich, dass dieses Haus hier seit hundert Jahren existiert und immer deiner Familie gehört hat«, sagte Kate.
Sie und George hatten es sich auf den beiden Sofas im Wohnzimmer bequem gemacht. Im Hintergrund lief eine CD. Nachlässig blätterten sie in ihren Sonntagszeitungen. Kate gönnte sich ab und zu einen Griff in die Schachtel mit den Schokoladenkeksen und krümelte ihr schwarzes T-Shirt voll.
»Was ist denn daran außergewöhnlich?« George angelte sich die Lifestyle-Beilage und betrachte das Bild eines modern gestalteten Gartens, der sich durch sehr viel blauen Lack und sehr wenige Grünpflanzen auszeichnete.
»Na ja, diese große Familie …«
»Das Haus gehörte, bis ich es erbte, immer nur weiblichen Familienmitgliedern.«
»… die nicht nur hier lebten, sondern in diesen Mauern auch einen Teil ihres Lebens hinterließen, der nur darauf wartet, dass wir uns auf ihn einlassen. In diesen Wänden schlummern eine Menge Erinnerungen …«
»… und wirbeln wie Staubflocken unter den Möbeln herum«, vervollständigte George. »Vielleicht krabbeln sie auch wie Mäuse hinter dem Holzpaneel. Du solltest hier nie eine Mausefalle aufstellen! Nicht, dass du am Ende noch Großtante Elinor erwischst!«
»Sie sind alle hier um uns herum«, fuhr Kate fort, ohne auf Georges Frotzelei zu achten. »Vor allem oben auf dem Speicher.«
»Ja, der Speicher. Mein Dachboden. Ich fürchtete immer schon, dass dort weibliche Gespenster ihr Unwesen treiben.«
»Das ist gelebte Geschichte.« Kate ignorierte Georges Bemerkung. Sie begann sich für das Thema zu erwärmen. »Nicht dieser trockene, unpersönliche Stoff, der in Büchern steht und immer nur Fremden passiert ist. Die echte, wahre Geschichte ist die von Leuten, die wir kennen und mit denen wir etwas anfangen können.«
»Nach allem, was ich über sie gehört habe, kannst du dich glücklich schätzen, meine weiblichen Vorfahren nie kennen gelernt zu haben. Ganz zu schweigen von meinem Urgroßvater John Marlyn, der dieses Haus gebaut und seiner Schwester Margaret Marlyn vermacht hat.«
»Das war aber doch sehr anständig von dem alten Knaben!«
»Er hätte alles getan, um Margaret aus seinem eigenen Haus fernzuhalten. Ich glaube, sie war eine ziemliche Nervensäge und hatte den Kopf voller unbequemer Ideen.«
»Na super!«, rief Kate. »Das ist genau der Einstieg, von dem ich geträumt habe!«
»Ich dachte, du hättest eher den Zweiten Weltkrieg ins Auge gefasst.«
»Stimmt. Aber ich möchte natürlich auch ganz gern die anderen Hintergründe recherchieren.«
»Du möchtest gern recherchieren. Punkt«, stellte George fest.
»Sei nicht immer gleich so negativ! Hier liegt der Schlüssel zu meinem nächsten Buch. Ich kann also
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