Schatten über Oxford
halbes Jahrhundert in der Zeit zurückversetzt.
Die Seiten huschten über den Bildschirm. Sie waren an den Rändern ein wenig ausgefranst, als wären sie durch viele Hände gegangen, ehe man sie auf Mikrofilm gebannt hatte. Kate beugte sich nach vorn, um die erste Titelseite besser lesen zu können. Diese bestand aus einer wilden Ansammlung von Schlagzeilen und kleinen Artikeln. Stimmt, dachte Kate, damals wurde das Papier rationiert. Jede Ausgabe bestand aus nur vier Seiten. Und weil die Zeitungen so langweilig und bieder wirkten, freute sich Kate, dass sie so überschaubar waren.
Nachdem Kate sich durch einige Artikel gearbeitet hatte, konnte sie kaum glauben, dass es sich um eine Lokalzeitung handelte. Der Inhalt drehte sich fast ausschließlich um den Krieg, und zwar sowohl im Inland als auch im Ausland. Die kurzen Berichte über Bombenabwürfe, Morde und Gerichtsprozesse stammten sämtlich aus dem Süden Englands, als wären sie von einer zentralen Presseagentur gekommen. Auf den inneren Seiten befanden sich einige Briefe, die sich alle mit dem gleichen trivialen Thema beschäftigten. Es ging um den Preis von Kinokarten, die in Oxford einen ganzen Schilling mehr kosteten an als in Reading.
Kate unterdrückte ein herzhaftes Gähnen. Das Lesen bereitete ihr zunehmend Mühe. Doch dann fand sie plötzlich einen kurzen Bericht über eine gewisse Miss Marlyn, die von der Verwaltung wegen Kraftstoffmissbrauchs zu fünf Pfund Geldstrafe verurteilt worden war. Was war das? Handelte es sich bei der besagten Dame etwa um eine der hochgelobten Marlyns, jener so geachteten Bürger von Oxford? Da konnte man mal wieder sehen! Schade, dass nicht detaillierter über den Vorfall berichtet wurde. Kate hätte sich gern versichert, dass ihre Vermutung stimmte.
Sie blätterte weiter zum täglichen Rezeptvorschlag, der als Zutaten ziemlich viel Kohl und noch mehr heißes Wasser auflistete. Kein Wunder, dass die wenigen Anzeigen sich auf Medikamente gegen Schlaflosigkeit und Sodbrennen beschränkten. »Erwecken Sie Ihre Gallen zum Leben!«, forderte eine Reklame sie auf. Vermutlich hatte die gesamte Bevölkerung von Oxford des nachts wachgelegen, sich mit Gallenkoliken geplagt und von einer anständigen Mahlzeit geträumt, die nicht ein einziges Schnipselchen rohen Kohl enthielt.
Als Nächstes fiel Kate ein Artikel über Verkehrsunfälle mit Kindern ins Auge. »Kinder verhalten sich unvorsichtig«, hatte sich ein geistloser Journalist beklagt. Für eine Sekunde hatte Kate einen Konvoi von khakifarben gestrichenen Lastwagen vor Augen, die durch enge Dorfstraßen ratterten – Pech für die kleinen Kinder, die nicht rechtzeitig zur Seite sprangen. Unvorsichtig! Ihr fiel auf, dass die Fahrer mit keinem Wort kritisiert wurden. Damals behandelte man Kinder auf eine Weise, die im 21. Jahrhundert absolut befremdend erscheinen musste.
»Ich persönlich mache es den Eltern zum Vorwurf«, tönte ein vorhersehbarer Leserbrief. »Kinder sollten nicht unbeaufsichtigt auf den Straßen herumlaufen.«
Kate nahm sich die nächste Ausgabe vor und überflog die unverdaulichen Tagesnachrichten, ehe sie sich dem noch unverdaulicheren Tagesrezept zuwandte. An diesem Tag nannte es sich »Frühlingssalat« und enthielt außer dem üblichen Kohl fein gehackte Kohlrüben, geriebene Karotten sowie rote Beete und als Dekoration Radieschen und Petersilie. Schließlich hatte der Autor dieser Katastrophe auch noch vorgeschlagen, das Ganze mit Essig zu übergießen. Kein Wunder, dass die Leute damals so dünn waren, dachte Kate und wandte sich den Leserbriefen zu.
Aha! Da gab es tatsächlich einen Leser, der zu bedenken gab, dass man von kleinen Kindern nicht erwarten könne, im Straßenverkehr die volle Verantwortung zu übernehmen. Es sei einem Fahrer durchaus zuzumuten, ihre Anwesenheit wahrzunehmen und sein Fahrzeug so unter Kontrolle zu haben, dass er binnen kürzester Zeit bremsen könne. Höchstwahrscheinlich war der Autor dieses Briefes von der Mehrzahl der Leser für hoffnungslos verrückt gehalten worden.
Noch einmal betrachtete Kate das Foto oben auf der Seite. Es war ein unterbelichtetes Bild von vierzehn Kindern auf einer düsteren Krankenhausstation. Allesamt Opfer von Verkehrsunfällen, las sie. Die Bildunterschrift verriet die Vornamen und das Alter der Kinder. Eines hieß Christopher und war zehn Jahre alt.
Kate überprüfte das Datum. Sie hatte den 17. Februar 1945 erreicht. Aber welches der Kinder war Christopher? Alles, was sie erkennen
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