Schatten über Oxford
St. Marks Kirche, und Kate konnte durchaus noch dort vorbeischauen, ehe sie sich auf den Heimweg machte. Da sie keine Kinder hatte, war ihr nicht bewusst, dass die Sommerferien noch längst nicht vorüber waren. Auch dachte sie nicht ein einziges Mal daran, sich umzublicken und nach einer Frau mit einem Messer Ausschau zu halten. Sie war so sehr auf ihre Geschichte konzentriert, dass sie vergaß, sich vor jedem Schatten auf der Straße zu fürchten.
Zu Kates Glück befanden sich die Kinder zwar noch in den Sommerferien, doch das Büro der Schule war besetzt. Das Schulgebäude musste etwa zur gleichen Zeit entstanden sein wie Oswald Court und sah dem Altersheim ausgesprochen ähnlich. Nur der Geruch unterschied sich deutlich: weniger Desinfektionsmittel, dafür mehr verschwitzte Socken. Kate klingelte und rief ihren Namen in eine fast identische Wechselsprechanlage. Anschließend klopfte sie an die Tür mit der Aufschrift Verwaltung und trat ein.
Eine Frau mit sehr ordentlicher Frisur und diskretem Make-up saß an einem Schreibtisch, auf dem ein Namensschild ihren Namen preisgab: Janice Carlton , Schulsekretärin .Sie knipste ein professionelles Lächeln an und trug eine große Brille, die ein kleines, nicht ganz braves Kind durchaus einzuschüchtern vermochte.
»Kann ich Ihnen weiterhelfen?«, erkundigte sie sich.
Kate fing an, ihre übliche kleine Vorstellungszeremonie abzuspulen. »Mein Name ist Kate Ivory«, begann sie.
»Etwa die Schriftstellerin?«
»Richtig.« Das machte die Sache leichter. »Ich bin dabei, Hintergrundmaterial für ein Buch zu sammeln, das im Zweiten Weltkrieg spielt.«
»Und was können wir hier in St. Marks für Sie tun?«
»In diesem Teil von Oxford waren damals evakuierte Kinder untergebracht. Kinder, die in den vierziger Jahren hier zur Schule gingen, können sich vielleicht noch an sie erinnern, und daran, wie das Leben im Krieg hier so war«, endete sie lahm.
»Und jetzt brauchen Sie ihre Namen und Adressen?«
»Ja, das wäre wunderbar.«
»Das glaube ich Ihnen gern, aber das kann ich unmöglich tun.«
»Warum nicht?« Kate fand es frustrierend, wie hier eine Hoffnung zunächst aufgebaut und dann wieder zerstört wurde.
»Wir geben niemals Namen oder Adressen heraus«, erklärte Janice. Kate begriff, dass es keinen Sinn machte, auch nur den Versuch zu wagen, sie zu überreden. Als Schulsekretärin hatte sie vermutlich eine Menge Erfahrung darin, von Kindern und Eltern angeschwindelt zu werden, und konnte blitzschnell auf jeden Einwand reagieren, den Kate sich ausdachte.
»Hätten Sie vielleicht einen Vorschlag, wie ich an diese Leute herankomme?«, fragte sie, ohne sich jedoch Hoffnung auf eine befriedigende Antwort zu machen.
»Ehemalige Schüler halten eher Kontakt zu den weiterführenden Schulen – weniger zu ihrer Grundschule«, sagte Janice. »Damals gingen die Kinder von St. Marks meist in die Berry Road Secondary School oder auf das Jungen- oder Mädchengymnasium. Beide Schulen dürften über einen Verein ehemaliger Schüler verfügen.«
»Aber diese Vereine werden doch sicher ebenfalls keine Adressen herausgeben«, mutmaßte Kate.
»Wenn Sie über einen Internetanschluss verfügen, könnten Sie die entsprechenden Homepages suchen«, schlug Janice vor. »Dort gibt es mit Sicherheit Kontaktadressen, an die Sie Ihre Anfrage mailen können.«
»Ausgezeichnete Idee. Vielen Dank!«
»Und noch etwas.«
»Ja?« Kate hatte bereits ihre Handtasche geschultert und stand im Begriff zu gehen.
»Soviel ich weiß, wurden damals komplette Schulklassen samt ihren Lehrern aus London evakuiert.«
»Ja?« Worauf wollte Janice hinaus?
»Ein oder zwei Lehrer blieben nach dem Krieg in Oxford, weil es ihnen hier gefiel oder weil sie inzwischen geheiratet hatten. Außerdem kamen einige der evakuierten Kinder als Erwachsene nach Oxford zurück.«
»Dürfen Sie mir einen Namen nennen?«
»Alle Kinder kannten sie«, sagte Janice Carlton. »Ihr Name ist Miss Arbuthnot.«
Kate schrieb sich den Namen auf und blickte Janice fragend an.
»Die Frage erübrigt sich«, erklärte Janice. »Ich glaube fast, dass sie so etwas wie einen Vornamen nie besessen hat.«
»Und wo kann ich sie finden?«
»Sie wohnt seit über fünfzig Jahren in derselben kleinen Wohnung und besucht seither jeden Sonntag den Gottesdienst in der St. Marks Kirche.«
Da Janice keinesfalls alt genug war, um diese Beobachtung selbst gemacht zu haben, folgerte Kate, dass es sich bei Miss Arbuthnot um eine Art
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