Schatten über Oxford
eingeschlummert war. Doch ihre blauen Augen wirkten sehr lebendig. »Ist das etwa nicht wahr?«, hakte Kate nach. »Doch, das stimmt.«
»Können Sie mir mehr darüber erzählen?«
»Ich kann Ihnen erzählen, dass unser Danny den Lieferwagen gefahren hat und dass unser Danny für den Tod des Jungen geradestehen musste. Aber was konnte er schon dafür? Die Kinder sind einfach auf die Straße gelaufen, ohne auf den Verkehr zu achten. Es war nicht seine Schuld. Und es ist nur seinen Fahrkünsten zu verdanken, dass das kleine Mädchen – die kleine Susan – mit dem Leben davongekommen ist.«
Violet Watts brach ab.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Kate. »Ich wollte Sie nicht aufregen.«
»Ich bin nicht aufgeregt«, fauchte Violet Watts sie an.
Die alte Dame sagte die Wahrheit. Kate konnte ihr am Gesicht ablesen, dass sie einfach nur wütend war.
»Alles in Ordnung bei Ihnen?« Es war das Mädchen im blauen Overall, dem vermutlich die Lautstärke des Wortwechsels Sorge bereitet hatte. Wahrscheinlich befürchtet sie, dass ich eine verkappte Senioren-Mörderin bin, mutmaßte Kate.
»Alles bestens«, antwortete sie. »Wir unterhalten uns über die guten alten Zeiten.«
»Da war absolut nichts Gutes dran«, knurrte Violet Watts, nachdem das Mädchen das Zimmer wieder verlassen hatte. »In London behauptete man, es hätte eine große Verbrüderung gegeben. Alle hielten zusammen, um uns gegen die Deutschen zu verteidigen. Aber hier in Oxford war davon nichts zu spüren. Ehrlich gesagt waren wir eher eine Art Zuschauer. Der Krieg fand ganz woanders statt. Natürlich war der Himmel voller Flugzeuge, und Beaverbrook ließ sie in den Morriswerken reparieren, wenn sie kaputtgingen. Wir hatten auch Amis hier, und jeden Tag fuhren Konvois durch die Stadt. Gar nicht zu reden von den Beamten und Wissenschaftlern aus Whitehall, die sich in den Colleges herumtrieben. Aber wir waren nie wirklich in Gefahr. Es wurde gemunkelt, dass Hitler Oxford für sich behalten wollte, falls er den Krieg gewinnen würde. Und was mich persönlich angeht, hätte er das ruhig tun können.«
»Wieso das?«
»Leute wie Elinor Marlyn haben uns schon vor dem Krieg herumkommandiert, und danach saßen sie immer noch am Hebel. Wir wohnten in ihrem Gartenhaus und mussten ständig darauf achten, was wir sagten oder taten, denn sonst wären wir schnell draußen gewesen. Dafür haben wir bestimmt keinen Krieg geführt!«
»Ich verstehe«, sagte Kate, die nie einen Krieg im eigenen Land erlebt hatte und sich nicht vorstellen konnte, wie man sich in dieser Situation fühlte. Und abgesehen von ihrer Agentin brauchte sie sich auch keine Gedanken darüber zu machen, ob irgendjemand Macht über ihr Leben hatte. Die Generation ihrer Mutter hatte Dinge, an die sie glaubte, mit Protestmärschen durchzusetzen versucht. War Roz dabei gewesen? Kate wusste es nicht. Doch ihre eigene Generation war noch nicht einmal zu solchen Aktionen bereit gewesen. Sie war politisch völlig apathisch geblieben. Stattdessen kümmerte sie sich lieber um Selbstverwirklichung, Geldverdienen und Vergnügungen.
»Allerdings hat sie das Kriegsende nicht lange überlebt«, unterbrach Violet Watts Kates Gedankengänge.
»Hat sie nicht?« Kate verspürte einen kleinen Gewissensbiss, weil sie Mrs Watts ermutigte, über Georges Familie zu klatschen, doch sie unterdrückte ihn schnell wieder. Wie sonst sollte sie herausfinden, was tatsächlich geschehen war? Außerdem interessierte sie sich für George und alles, was mit ihm zusammenhing. »Erzählen Sie!«, spornte sie die alte Dame an.
»Sie hat sich umgebracht.«
»Ach!«
»Doch! Es war im Spätherbst, als die Nächte lang wurden und morgens viel Tau auf den Wiesen lag. Ich mag den Herbst. Den Geruch der Feuerchen in den Gärten und die Vorfreude auf lange Abende vor dem Kamin. Allerdings wurde in diesem Winter das Brennmaterial rationiert. Alles fror ein – Pfützen, Rohre, Fensterscheiben. Ich hatte schreckliche Frostbeulen.«
»Und Miss Marlyn?«
»Wie? Ach so! Sie hatte einen kleinen Lieferwagen in ihrer Garage stehen. Sie benutzte ihn nicht häufig. Irgendwann war sie dabei erwischt worden, dass sie den Wagen nur so zum Spaß für sich selbst fuhr, und musste fünf Pfund Strafe zahlen. Damals war nämlich auch das Benzin rationiert. Wussten Sie das?«
»Ich habe davon gehört«, erwiderte Kate.
»Nun, eines Abends ging sie hinaus in die Garage. Es muss ziemlich spät gewesen sein. Sie setzte sich ins Auto, ließ den Motor an
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