Schatten über Oxford
wahr?«
»Genau. Sie sagten, sie wäre für die Unterbringung von Flüchtlingen zuständig gewesen. Ich nehme an, diesen Beruf gibt es heutzutage in Headington nicht mehr.«
»Stimmt. Naomi King«, sagte Kate, die sich endlich erinnerte. »Kennen Sie sie?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
Eine bemerkenswerte Hilfe, wirklich!
»Es ist nämlich so, dass ich in der vergangenen Woche eine Naomi King beerdigt habe.«
»Glauben Sie, dass es sich um die Naomi King handelt, nach der ich suche?« Bei ihrem Glück war sie es bestimmt, aber Kate konnte es immerhin einmal versuchen.
»Acht- oder neunundsiebzig Jahre alt. Ziemlich groß für eine Frau. Sie wohnte in einem kleinen Apartment in einer Seitenstraße der High Street. Nicht in einem Mietshaus, sondern in einem Haus, das vor etwa dreißig, vierzig Jahren in Einzelwohnungen aufgeteilt wurde.«
»Ich fürchte, das hört sich nach meiner Naomi King an.« Kate seufzte. Wieder einmal war sie zu spät gekommen. »Wissen Sie Näheres?«
»Ich kann Ihnen die Adresse geben. Und auch den Namen und die Adresse der Frau, die das Begräbnis organisiert hat.«
Kate schrieb mit.
Wie Elspeth bereits gesagt hatte, befand sich Naomi Kings Wohnung in einer Seitenstraße der High Street. Die Frau, die sich um die Beerdigung gekümmert hatte – Schwester? Cousine? Nichte? –, stammte aus einem Dorf in der Nähe von Northampton und hieß Mrs Joan Angers.
»Vielen Dank, Elspeth«, sagte Kate und fügte in einem Anfall von Großzügigkeit hinzu: »Wir könnten doch in den nächsten Tagen einmal zusammen das kreative Schreiben üben. Ich erzähle Ihnen, worauf es bei einem Roman ankommt.«
»Das wäre toll!«, sagte Elspeth, doch Kate konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Pfarrerin dabei leise lächelte.
Sie sah auf die Uhr. Bis George kam, blieb noch viel Zeit. Wenn sie die Pläne für ihr Abendessen ein wenig vereinfachte, wäre es in maximal fünfzehn Minuten fertig, was bedeutete, dass sie noch kurz in Naomi Kings Wohnung vorbeischauen konnte. Natürlich war es möglich, dass sie den Weg umsonst machte, doch andererseits hatte die Beerdigung erst vor wenigen Tagen stattgefunden – vielleicht wurde die Wohnung noch ausgeräumt.
Was erhoffst du dir?, fragte sie sich. Ich weiß es nicht, lautete die Antwort, aber vielleicht stoße ich auf irgendetwas .Auf jeden Fall machte es mehr Spaß, als Gemüse zu putzen oder dieses trockene Sachbuch zu lesen.
Joan Angers war ein Teenager gewesen, als Christian Dior den New Look erfand. Und sie musste damals ihre beste Zeit gehabt haben. Das wurde Kate sofort klar, als Mrs Angers die Tür öffnete und wie eine überdimensionale Eieruhr im Rahmen stand. Der Flur quoll vor schwarzen Mülltüten fast über. Der Geruch verbrannter Abfälle hing in der Wohnung.
»Ja bitte?« Eine beflissene Stimme, die Vokale klar und Konsonanten gut moduliert aussprach. Sicher war die Frau früher einmal eine ausgezeichnete Sekretärin gewesen, dachte Kate, indem sie ihr Gegenüber sofort in eine Schublade steckte – wie Schriftsteller es gern zu tun pflegen.
»Mrs Angers?«
Die gemalten schwarzen Augenbrauen hoben sich zustimmend.
»Mein Name ist Kate Ivory. Ich bin Schriftstellerin und wollte Miss King besuchen, weil ich mir von ihr Hintergrundmaterial für einen Roman erhoffte, der in den vierziger Jahren spielt. Leider habe ich erst jetzt von ihrem Tod erfahren …«
Bei der Erwähnung des Wortes »Tod« zogen sich die Augenbrauen unwillkürlich zusammen, und Kate überlegte, ob sie lieber »Hinscheiden« hätte sagen sollen. Nein, dieses Wort gehörte nicht zu ihrem Vokabular. Mrs Angers würde sich an die Ivory’schen Sprachgepflogenheiten gewöhnen müssen.
»Ich wüsste nicht, was ich für Sie tun könnte«, erklärte Mrs Angers. »Ich war damals noch ein Kind – ein sehr kleines Kind«, fügte sie hinzu, für den Fall, dass Kates Rechenkünste nicht ausreichten. »Ich weiß so gut wie nichts über diese Zeit.«
Einer der schwarzen Säcke hinter ihr fiel um und ergoss seinen Inhalt über den Fußboden. Hemden und Unterröcke einer alten Dame.
»Darf ich Ihnen helfen?«, fragte Kate mitleidig. Genau genommen wusste sie selbst nicht recht, was sie hier eigentlich suchte, doch sie war nicht bereit zu gehen, ehe sie nicht alle erdenklichen Informationen aus der Frau herausgekitzelt hatte.
»Ich bin gerade dabei, ihre Sachen auszusortieren«, erklärte Mrs Angers unnötigerweise. »Die meisten Kleider werden wohl auf dem Müll
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