Schatten über Oxford
landen; nur wenige Dinge sind hübsch genug, dass Oxfam sich vielleicht dafür interessiert. Ihre Bücher sind schrecklich altmodisch und samt und sonders ziemlich zerlesen. Irgendwie finde ich es traurig, die letzten Spuren eines Lebens so zu vernichten.«
Kate murmelte ein paar mitleidige und zustimmende Worte, hob dabei den Plastiksack auf, stopfte den Inhalt wieder hinein und verschloss den Sack mit einem Knoten.
»Kannten Sie meine Tante gut?«, erkundigte sich Mrs Angers. Vielleicht hatte Kates Hilfsbereitschaft sie berührt. »Ich kann mich nicht erinnern, Sie bei der Beerdigung gesehen zu haben. Allerdings waren kaum zehn Leute dort.«
»Leider habe ich nicht rechtzeitig von der Beisetzung erfahren, sonst wäre ich sicher dort gewesen«, sagte Kate ehrlich. Die Tatsache, dass sie Naomi King zu ihren Lebzeiten nicht kennen gelernt hatte, hätte sie sicher nicht abgehalten. »Aber ich bin sicher, dass Elspeth sie auf angemessene Weise zur letzten Ruhe geleitet hat.« Wahrscheinlich in einer lilafarbenen Soutane und mit einem schwarzen Jett-Stein statt des Diamanten in der Nase.
»Ich mag keine weiblichen Pfarrer«, erklärte Mrs Angers blasiert.
Kate sagte zwar nicht laut, dass man sich mit Pfarrerinnen abfinden musste, da es sie nun einmal gab, doch die Versuchung war groß.
»Was wollte Tante Naomi Ihnen eigentlich geben?«, fragte Mrs Angers. Sie hatte Kate hereingebeten und ging in den Raum, der früher einmal das Wohnzimmer gewesen sein musste.
»Tja«, erwiderte Kate. »Das weiß ich auch nicht so genau. Aufzeichnungen? Fotos? Tagebücher?«
»Davon gab es hier nur sehr wenig, und das Wenige habe ich verbrannt. Ich wollte nicht, dass irgendwer derart persönliche Dinge zu Gesicht bekommt.«
»Verstehe«, sagte Kate. Heute kam sie offenbar überall ein bisschen zu spät.
Sie sah sich im Zimmer um. Die Spuren von Naomi King waren in Windeseile verschwunden, doch über einer Stuhllehne hing eine graue Jacke, die Kate Mrs Angers beim besten Willen nicht zutraute.
»Ich habe es noch nicht übers Herz gebracht, sie wegzuwerfen«, sagte Mrs Angers, deren Augen Kates Blick gefolgt waren. »Sie hat sie eigentlich immer getragen, wenn ich sie besuchte. Diese Jacke und ihren Mantel.«
Der Mantel hing hinter der Tür und war, wie erwartet, aus grauem Tweed. Er hatte einer hochgewachsenen Frau gehört. In der Wohnung roch es noch immer leise nach alter Dame. Der Geruch war zu Naomi Kings Lebzeiten bestimmt stärker gewesen und würde sicher weitestgehend verschwinden, sobald Mrs Angers alle persönlichen Habseligkeiten weggebracht hätte. Es war eine Mixtur aus Staub und Schimmel, antibakteriellem Mundwasser, Körperpuder und einer zarten, aber deutlichen Karamell-Note, als wäre es Naomi Kings letzte Tätigkeit auf dieser Erde gewesen, Zucker in einer heißen Pfanne zu rühren, um für den Besuch von Kindern immer genügend Bonbons zu haben. Mrs Angers Stimme unterbrach Kate in ihren Gedankengängen.
»Können Sie vielleicht damit etwas anfangen?« Sie stand neben dem Ausziehtisch aus Eiche und streckte Kate ein Bündel Papiere entgegen. »Ich wollte es gerade verbrennen, als Sie geklingelt haben. Es sind nur ein paar Notizen aus dem Jahr 1945. Abgesehen von viel romantischem Unsinn scheint es hauptsächlich um evakuierte Personen zu gehen. Das war es doch, wofür Sie sich interessierten, nicht wahr?«
»Ganz genau«, sagte Kate und vergaß sofort sowohl Mundwasser als auch Karamell-Bonbons.
»Wahrscheinlich hatte Tante Naomi es für Sie bereitgelegt.«
»Wie nett von ihr. So war sie immer!« Nie hätte Kate zugegeben, dass Naomi King in ihren letzten Lebenstagen schon eine Gedankenleserin hätte sein müssen, um das Päckchen für sie vorzubereiten.
Kate zupfte die erste Seite vom Stapel und überflog sie. Eine hübsche, saubere und gut lesbare Handschrift mit blauer Tinte auf liniertem Papier. Möglicherweise sentimentales Geschwätz, doch es könnte ein Körnchen brauchbarer Information enthalten. Sie steckte die Notizen ein, ehe Mrs Angers es sich anders überlegen konnte.
»Eigentlich hat sie ein trauriges Leben geführt«, meldete sich Mrs Angers wieder zu Wort. »Die anderen Fotos habe ich alle weggeworfen, aber bei diesem hier habe ich überlegt, was ich damit tun soll.« Sie reichte Kate ein Foto, das auf dem Kaminsims gestanden hatte. Aus einem einfachen Silberrahmen sah ihnen ein junger Mann mit dunklem Haar und offenem Blick entgegen. Er trug eine Uniform, die selbst Kate als die eines
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