Schatten über Oxford
Offiziers der Marine erkannte. Er wirkte jugendlich, optimistisch und ziemlich attraktiv.
»Er ist natürlich gefallen«, berichtete Joan Angers.
»Das tut mir wirklich leid.« Der Satz wirkte irgendwie unpassend. Am liebsten hätte Kate angeboten, das Bild ebenfalls mitzunehmen, doch ihr fiel beim besten Willen kein Grund ein, warum sie es hätte tun sollen.
»War er ihr Freund?«
»Ihr Verlobter. Sie hatten beschlossen, mit der Hochzeit bis nach dem Krieg zu warten. Vielleicht ist ihr später klar geworden, dass sie dieses eine Mal im Leben besser impulsiv gehandelt hätte. Mit nichts als einem Foto zu leben mag ja ganz nett sein, aber der Mensch braucht mehr als das. Sie hätten ihre Chance ergreifen sollen, als es noch ging. Zumindest hätte meine Tante dann Erinnerungen gehabt, die ihr durch die leeren Jahre geholfen hätten.«
»Waren sie wirklich so leer?«
»Vielleicht liegt es an meiner Generation, aber ich glaube tatsächlich, dass Jahre, die man ohne einen Mann an seiner Seite verbringt, leere Jahre sind«, sagte Mrs Angers. Sie bückte sich und hob etwas vom Fußboden unter dem Tisch auf. »Interessiert Sie das hier auch?«
Es war ein Schnappschuss von der Art, an die Kate sich allmählich gewöhnte: schwarz-weiß, ein wenig verwackelt und etwas trüb. Doch es zeigte eine große junge Frau, die selbst mit allenfalls zwanzig Jahren nicht besonders hübsch oder graziös gewesen war. Ihr helles, stark gelocktes Haar war in keinem besonderen Stil frisiert. Aber wenigstens hatte sie auf ihr Markenzeichen, die dicke Brille, verzichtet. Um die junge Frau herum scharten sich einige Kinder. Das jüngste war etwa sechs, das älteste kaum älter als zwölf Jahre. Eines der kleinen Mädchen trug eine Kapuze. Ob das Susie Barnes war? Ein Junge hatte sich genau in dem Moment bewegt, als der Auslöser betätigt wurde. Sein Gesicht war nur ein verschwommener Fleck. Doch Kate vermutete, dass es sich um Christopher handelte. Um ihren Christopher.
»Wissen Sie, wer das ist?«, fragte sie.
»Die junge Frau ist natürlich Naomi, aber wer die Kinder sind, weiß ich nicht.«
Kate drehte das Foto um. Es trug eine Beschriftung in sehr sorgfältiger Handschrift. » Meine « Kinder : Brenda , Trevor , Shawn , Shirley , Ricky , Christopher , Graham , Susan , Bobby .
»Dürfte ich das Foto ebenfalls mitnehmen?«
»Ich weiß zwar nicht, was Sie damit anfangen wollen, aber bitte sehr. Ich hätte es ohnehin weggeworfen.«
Anhaltspunkte, dachte Kate. Vielleicht kann ich einige der Kinder auf dem Foto ausfindig machen, obwohl das ohne Familiennamen ziemlich schwierig werden dürfte.
»Es waren natürlich nicht wirklich ihre Kinder«, erklärte Mrs Angers überflüssigerweise, während sie Kate zur Tür begleitete.
»Über ihr Privatleben weiß ich herzlich wenig«, sagte Kate in der Hoffnung, ohne allzu viel weiteres Geplauder davonzukommen. Mrs Angers war nicht unbedingt ihr Typ, außerdem würde sie hier sicher nichts weiteres erfahren, was von besonderem Interesse sein könnte. Stattdessen sehnte sie sich danach, die Notizen durchzulesen, weil sie wissen wollte, ob Naomi Christopher und Susan erwähnt hatte. »Aber vielleicht war es ihr Wunsch, allein zu bleiben«, fügte sie hinzu, um das Gespräch zu beenden.
Mrs Angers gab ihr darauf keine Antwort. »Wäre Philip nicht im Krieg gefallen, wäre ihr Leben sicherlich ganz anders verlaufen.«
Erst als sich die Haustür hinter ihr geschlossen hatte und Kate bereits auf dem Bürgersteig stand, dachte sie darüber nach, was Joan Angers gesagt hatte. Sie war so mit Christopher und seiner Schwester beschäftigt gewesen, dass sie eine gute Gelegenheit hatte verstreichen lassen. Wäre Naomis Geschichte nicht die ideale Story vom verlorenen Glück gewesen, nach der sie gesucht hatte? Kate hatte in ihrem Eifer völlig vergessen, dass eine alte Dame in Tweedrock und handgearbeiteter Strickjacke auch einmal jung und attraktiv gewesen war. Auch eine so ungekünstelte junge Frau wie die Naomi King auf dem Foto hatte ein Liebesleben gehabt. Doch im Augenblick interessierte sich Kate nicht für Romantik. Das konnte bis später warten. Und das, was Naomi und ihrem Verlobten passiert war, als sie glaubten, noch alle Zeit der Welt zu haben, zeigte Kate, dass diese Geschichte nicht die richtige war.
Sie eilte zurück in die Cavendish Road. Wenn sie George überzeugen konnte, statt des frischen Gemüses heute ausnahmsweise mit einem Chop Suey vom Chinesen in der Straße vorliebzunehmen,
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