Schatten über Oxford
wurde klar, dass sie ihre Solidarität mit Sam längst deutlich gemacht hatte.
»Ich bin der Meinung, Jack braucht einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester. Außerdem bin ich noch längst keine vierzig«, fügte sie hinzu.
»Aber ihr würdet ein größeres Haus brauchen und einen ganzen Fuhrpark, um alle Kinder herumzukutschieren.«
»Das ist doch wieder übertrieben! Warum musst du eigentlich immer so gnadenlos übertreiben?«
»Nur so, aus Gewohnheit. Übrigens brauchst du diese Schuhe nicht weiter zu wienern – sie glänzen längst wie nagelneu. Dafür darfst du jetzt die Tunika anprobieren, aber bitte vorsichtig.«
Emmas Kopf verschwand in dem blauen Kleidungsstück. Immer noch murrte sie, dass Sam ihr kein weiteres Kind gönnte.
»Der Saum wird vermutlich nicht lange halten, dafür habe ich zu flüchtig gearbeitet«, warnte Kate. »Du wirst dich morgen noch einmal daransetzen müssen, ehe du die Tunika wegräumst und es wieder vergisst.« Doch irgendwie wusste sie, dass Emma nicht dazu kommen würde. Und wenn sie die Tunika das nächste Mal anziehen wollte, würde der Saum vermutlich auf einer Seite herunterhängen. Nun, zumindest sah die Tunika inzwischen sauber aus, und die Hose war gebügelt. Zwar rochen die Sachen jetzt sowohl muffig als auch nach Chemikalien, doch das würde sich hoffentlich bis zum Abend geben.
»Ich kann es ihm einfach nicht verzeihen«, sagte Emma.
»Wem? Was?«
»Na, Sam! Jack wünscht sich von ganzem Herzen ein neues Geschwisterchen, weißt du?«
»Aha.«
Emma hatte die Tunika noch nicht wieder ausgezogen. Ihr Gesicht sah sehr rot aus.
»Warte, ich helfe dir raus«, schlug Kate vor, weil sie Sorge hatte, dass ihr gutes Werk sonst nicht überleben würde. »Ich hoffe, du besitzt noch etwas hübschere Unterwäsche als das da.«
»Schicke neue Unterwäsche interessiert mich nicht.«
»Das sehe ich.«
»Ich versuche, einen sauberen BH aufzutreiben«, lenkte Emma ein.
»Ich muss jetzt gehen«, sagte Kate und hängte Tunika und Hose auf einem Bügel in den Schrank. »Wir sehen uns im Restaurant. Und versuche, dich ein wenig zu beruhigen.«
»Nett von dir, meine Kleider zu sortieren«, sagte Emma ungeschickt. Dankbarkeit zu zeigen war nicht ihre stärkste Seite.
»Den Rest der zusätzlichen Babysitter-Zeit solltest du für eine schöne Dusche nutzen. Und wasch dir auch die Haare. Vielleicht kann Jane dir dabei helfen, sie hochzustecken.«
»Ja, ja, mache ich.«
»Am besten, du versuchst die Meinungsverschiedenheit mit Sam zu vergessen. Ein Streit ist nicht gerade eine gute Ausgangssituation für einen gelungenen Abend, das weiß ich aus leidvoller Erfahrung. Ihr findet bestimmt einen Kompromiss.«
»Kompromiss? Wie sollte es bei dieser Frage einen Kompromiss geben? Er erwartet, dass ich nachgebe. Wie gewöhnlich.«
Am liebsten hätte Kate vorgeschlagen, das Emma psychologische Hilfe in Anspruch nehmen oder zu einem Therapeuten gehen sollte – was auch immer gerade angesagt war in Bezug auf Menschen, die einem den Kopf zurechtrückten. Warum schien Emmas Lebensglück unbedingt von einem weiteren Kind abzuhängen? Kate ging es doch auch ganz gut, und sie hatte nicht ein einziges. Ihrer Meinung nach war Sam schon viel zu nachsichtig mit Emma gewesen. Wenn es nach Emma ginge, wäre irgendwann ganz Headington mit ihrer Nachkommenschaft bevölkert.
Trotzdem war Kate zufrieden, dass sie angesichts des bevorstehenden Abends bei Emma gepunktet hatte. Noch nie hat sich Emma so vertraut mit mir gegeben, dachte sie auf dem Heimweg in die Cavendish Road. Emma gehörte zu den Menschen, die sich jedes noch so kleinen Fehlers erinnerten und bei Tisch gnadenlos einen nach dem anderen unter die Leute brachten. Doch heute Abend sicher nicht, dachte Kate selbstgefällig. Mit Emmas Hilfe würde sie Georges Freunde, seinen Bruder und seine Schwägerin mit ihrer schillernden Persönlichkeit und ihrer sozialen Kompetenz beeindrucken. Man würde sie in der Familie Dolby mit offenen Armen willkommen heißen. Sie war sicher, dass auch Emma bis zum Abend zu ihrer normalerweise guten Laune zurückfinden und sich wieder mit Sam vertragen würde. Beide gehörten nicht zu den Menschen, die sich in aller Öffentlichkeit stritten.
Zum Aperitif trafen sie sich in der Bar des Restaurants, die sich rasch mit Gestalten aus der einheimischen Szene füllte. Fast alle rauchten. Zwar begann Emma, ostentativ zu husten und mit der Hand herumzuwedeln, doch niemand nahm Notiz von ihr. Anscheinend hatte
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