Schatten über Oxford
dieses Gespräch noch hinführen?
Kate rechnete zusammen: Emma hatte zu Hause bereits an der Hausbar genippt, in der Bar des Restaurants war noch ein Gin hinzugekommen, und gerade hatte sie das dritte Glas Wein geleert. Nach dieser Menge würde sich ihr eigener Kopf bestimmt längst drehen, doch hier handelte es sich um Emma, die der Kinder wegen immer nüchtern blieb und alkoholischen Getränken entsagte. Der Abend versprach, ziemlich lebhaft zu werden.
In diesem Augenblick wurde die Vorspeise serviert. Nachdem die Kellner alle Gerichte zugeordnet hatten, beobachtete Kate, wie Emmas Gabel über ihren Wildpilzen in Blätterteig hin und her schwankte. Emmas Gesicht wurde von Minute zu Minute röter und glänzender, und sie erinnerte sich gewiss nicht mehr daran, wer die schieferblaue Tunika, die ihr übrigens wirklich gut stand, noch vor wenigen Stunden für sie umgenäht hatte. Sie versuchte, einen Pilz aufzuspießen, scheiterte aber kläglich. Oje, dachte Kate. Die Pilzsoße machte sich gar nicht gut auf dem weißen Tischtuch.
»Keine Leichen im Keller der Dolbys«, grölte Emma, die das Thema offenbar nicht fallen lassen konnte. Von den Pilzen frustriert, erging sie sich lieber in vermeintlich witzigen Bemerkungen. »Da liegt so viel Silber, dass gar kein Platz für Leichen ist. Die Leute sind ja sooo korrekt – es ist kaum zu fassen. Wisst ihr, als Sam und ich einmal ein paar Monate vor unserer Hochzeit nur für ein Wochenende weggefahren sind, also da …«
»Halt den Mund, Emma«, sagte Sam freundlich, aber bestimmt. Sinnlos, dachte Kate. Er würde wahrscheinlich einen Knebel brauchen, um sie jetzt noch zum Schweigen zu bringen. Zum Beispiel könnte er es mit einer Serviette versuchen. Kate würde sich sogar bereit erklären, Emma während der Prozedur festzuhalten.
»Natürlich sind sie jetzt alle geradezu beängstigend reich« fuhr Emma fort. Sie hatte es endlich geschafft, ein paar Pilze in ihren Mund zu befördern, sprach aber trotzdem noch einigermaßen verständlich. »Ganz im Gegensatz zu meiner Familie. Und vermutlich auch zu deiner, Kate. Nein, wir haben es wahrlich nicht so dicke wie die Dolbys. Trotzdem stehen sie auf Frauen wie uns, wusstest du das? Sie benutzen ihr Geld, um uns unseren Platz zuzuweisen. Wir werden angehalten, zu knausern und zu sparen, während sie ihr Geld in Fonds, Aktien und Immobilien anlegen. Und wenn wir dann um eine Kleinigkeit bitten, irgendetwas, was eine Frau manchmal braucht, dann heißt es nur …« Emma verlor den Faden und starrte verwirrt ihre leere Gabel an.
»Sind Sie fertig?«, erkundigte sich der Kellner und machte Anstalten, Emmas Teller abzuräumen. Doch sie verteidigte ihre Vorspeise.
»Nein. Sehen Sie nicht, dass ich meine Pilze noch nicht gegessen habe?«
Der Kellner, der die Situation offenbar begriff, fuhr fort, die anderen Teller abzuräumen. Geschirrklappern übertönte einen Moment lang Emmas Monolog.
Kaum war der Tisch abgeräumt, begann Emma von neuem.
Sam und George hatten sich in eine lautstarke Diskussion über Fußball vertieft. Nick wirkte nervös und gab vor, ihr nicht zuzuhören. Vermutlich betete George insgeheim darum, dass der nächste Gang möglichst bald serviert wurde und seine Schwägerin am Weiterreden hinderte. Nur Megan und Kate widmeten Emma ihr ungeteiltes Interesse.
»Für die Dolbys war Geld immer gleichlautend mit Rechtschaffenheit«, erklärte diese gerade bedeutungsschwanger. »Oder heißt es gleichbedeutend? Du bist doch hier das Sprachgenie, Kate. Was meinst du?«
Kate, die von Emma in Fragen der Grammatik immer in die Schranken gewiesen worden war – von Semantik ganz zu schweigen –, wand sich aus der Affäre. »Ich wusste gar nicht, dass du eine solche Expertin in Sachen Familie Dolby bist, Emma.« Bewusst übersah sie Georges warnenden Blick. Die Gelegenheit, mehr über die Familie zu erfahren, musste sie einfach beim Schopf ergreifen. »Ich nehme an, du weißt Bescheid über die evakuierten Kinder, die im Krieg in High Corner wohnten, oder?«
»Megan und ich fliegen im kommenden Monat nach Korsika«, mischte sich Nick ein, der ein netter Mensch war und es nicht ertrug, dass sein Freund Sam in aller Öffentlichkeit von seiner Frau Emma bloßgestellt wurde. »Haben Sie und George auch eine Urlaubsreise geplant, Kate?«
»Bitte, unterbrich jetzt nicht, Liebling«, wies Megan ihn zurecht. »Niemand redet hier von Ferienreisen. Kate sitzt gerade an den Recherchen für ein neues Buch und wird sicher nicht
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