Schatten über Oxford
sie nach unserem Treffen ausreichend Zeit gehabt, ein oder zwei Gläser zu trinken, dachte Kate. Die Farbe ihrer Wangen ist jedenfalls nicht der Puderdose, sondern Hochprozentigem zu verdanken. Emma gab sich munter und lebendig und redete noch mehr als sonst mit den Händen. Es war eher Sam, der ein wenig ruhig wirkte.
Nick und George unterhielten sich über ihre Arbeit und schienen Emmas ungewohnten Zustand nicht zu bemerken. Emma vertiefte sich mit Megan in eine Unterhaltung über Kinder und Babys; vielleicht hatte der Alkohol ihr doch nicht so zugesetzt, wie Kate befürchtete. Tatsächlich sah es im Augenblick so aus, als ob dieser Abend einen ganz normalen Verlauf nehmen würde – nicht einmal interessant genug, um als Vorlage für eine Romanszene zu dienen. Auch die Leute am Tisch schienen kaum geeignet, auch nur ein Kapitel zu beleben.
Kate war froh, als sie schließlich an ihren Tisch geführt wurden, und noch erfreuter, als der bestellte Wein gebracht und eingeschenkt wurde. Endlich konnte sie anfangen, Emmas Vorsprung wettzumachen.
Doch schnell fiel ihr auf, dass Emma den Wein geradezu in sich hineinkippte. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass sie, nachdem sie einmal von ihren Kindern und Haushaltspflichten befreit war, Jahre des Verzichts aufzuholen versuchte. Als sie das Essen bestellten, fragte Emma lauthals nach einer Erklärung für jedes einzelne Gericht. Megan beschloss, Georges neuer Freundin ein wenig Freundlichkeit entgegenzubringen.
»George hat mir erzählt, dass Sie Schriftstellerin sind wie Emma«, begann sie. »Müsste ich von Ihnen gehört haben?«
Wie zum Teufel sollte man auf eine solche Frage antworten?
»Wahrscheinlich nicht unbedingt«, sagte sie. »Außerdem schreibt Emma Kinderbücher, während ich mich eher einer erwachsenen Klientel widme.« Lieber Himmel, wie sich das anhörte! Es klang, als schriebe sie erotische Geschichten für gelangweilte Hausfrauen, was ja absolut nicht den Tatsachen entsprach. »Welche Art Bücher lesen Sie gern?«, fügte sie hastig hinzu.
»Vor allem Romane«, antwortete Megan. »Fay Weldon, Anne Tyler, Jennifer Johnston, um nur ein paar Autoren zu nennen.«
»Ja, die lese ich auch gern. Meine Bücher sind allerdings ganz anders. Bisher habe ich hauptsächlich romantische Romane mit historischem Hintergrund geschrieben …«
»Wenig Geschichte, viel Romantik«, warf Emma wild gestikulierend ein und warf ein Wasserglas um. Sofort kam ein Kellner mit einem Tuch, um das Malheur zu beseitigen.
»Ich wusste gar nicht, dass du je eines meiner Bücher gelesen hast, Emma«, erwiderte Kate und war sich bewusst, dass ihre Stimme unangenehm scharf klang.
»Nun, das vielleicht nicht, aber …«
»Ich glaube, du solltest nicht über Bücher urteilen, die du nicht gelesen hast«, meinte Megan und wandte sich wieder an Kate. »In welcher historischen Periode siedeln Sie Ihre Romane an, Kate?«
»Unterschiedlich«, antwortete Kate vage. »Allerdings wünscht meine Agentin, dass ich etwas Moderneres schreibe, daher widme ich mich im Augenblick den vierziger Jahren. Genauer gesagt: dem Zweiten Weltkrieg«, fügte sie hinzu, für den Fall, dass Megans Geschichtskenntnisse noch schlechter waren als ihre eigenen.
»Wahrscheinlich lesen Sie zunächst eine Menge Literatur aus der entsprechenden Zeit?«, vermutete Megan.
Kate münzte die Frage auf ihre eigene Sichtweise um. »Aber natürlich. Ich besitze Tagebücher, Aufzeichnungen und ziemlich viele Tonbänder. Mündlich überlieferte Geschichte halte ich für ungeheuer wichtig.« Sie erkannte, dass Megan eine weitere Frage stellen wollte, auf die sie bestimmt keine Antwort gewusst hätte, und so fügte sie rasch hinzu: »Außerdem bin ich in Georges Haus auf sehr interessantes Material gestoßen.«
»Wie bitte?«, fragte George, der den letzten Satz mitbekommen hatte.
»Es hört sich an, als wäre sie dabei, die Familien-Leichen aus dem Keller zu holen.« Sam grinste.
»Oh, ich bin ganz sicher, dass so etwas nicht existiert«, mischte sich Emma voller Sarkasmus ein. Sie hatte bereits zwei Gläser Wein getrunken und schenkte sich gerade das dritte aus der Weinflasche ein, die man unvorsichtigerweise in ihrer Nähe stehen gelassen hatte. Sam streckte die Hand aus und rückte die Flasche ein gutes Stück nach links. »Es ist völlig unmöglich, dass man bei den Dolbys auch nur das geringste Skandälchen finden könnte.« Emmas betont heiteres Lachen jagte Kate eine Gänsehaut über den Rücken. Oh Emma, wo wird
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