Schatten über Oxford
Wasser, eine Dusche und zwei Becher Kaffee später fühlte sie sich bereits viel besser. Neun Uhr war längst vorbei, doch George war immer noch nicht aufgetaucht. Wahrscheinlich brauchte er sehr viel Schlaf, um die die Auswirkungen des Vorabends zu verarbeiten.
Das Telefon klingelte. Schon beim ersten Läuten nahm Kate ab. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass sich Männer, die geweckt wurden, obwohl ihnen noch längst nicht danach zumute war, nicht unbedingt von ihrer liebenswertesten Seite zeigten.
»Kate? Das ging aber schnell!«
»Dafür gibt es gute Gründe. Wie geht es dir, Roz?«
»Bestens. Voller Energie. Und dir?«
»Von Minute zu Minute besser. Warum rufst du so früh an?«
»Ich wollte dir ein kleines Geschenk machen und dich fragen, was du dir wünschst.«
»Wieso das denn? Was ist los?« Roz war eigentlich nicht die Art Mutter, die ihre Tochter mit derartigen Anliegen anzurufen pflegte. Zumindest nicht sehr häufig. Irgendwie schien die Welt plötzlich Kopf zu stehen. Emma betrank sich und ließ kein gutes Haar an ihren ach so geschätzten Dolbys, und jetzt wollte Roz Kate ein »kleines Geschenk« machen.
»Muss es denn dafür unbedingt einen Grund geben?«, fragte Roz gerade. »Also, wenn du es unbedingt wissen willst, ich bin in den letzten Tagen zu etwas Geld gekommen, und es würde mir einfach Freude machen, etwas davon auf dich zu verwenden.«
»Und auf welche Weise bist du zu Geld gekommen?«, fragte Kate misstrauisch. »Hast du etwa wieder auf Pferde gewettet? Oder gar gepokert?«
»Keins von beidem. Obwohl ich der Meinung bin, dass ich für Pferdewetten ein ganz gutes Händchen habe. Aber keine Sorge, alles ist völlig ordnungsgemäß und legal abgelaufen. Ich habe mich gefragt, ob du vielleicht eines dieser hübschen kleinen, digitalen Aufnahmegeräte brauchen könntest. Du könntest es überallhin mitnehmen und jeden Gedanken, der dir durch den Kopf geht, sofort hineinsprechen.«
Der Preis für so etwas ist mindestens dreistellig, dachte Kate. »Ich glaube«, sagte sie laut, »es wäre mir unangenehm, meine Gedanken mit zufällig vorbeigehenden Fremden teilen zu müssen. Ich halte mich lieber an das gute alte Papier und einen Stift.«
»Wie wäre es denn mit einem neuen Notebook. Ist deins überhaupt noch auf dem neuesten Stand?«
Jetzt ging es schon um vierstellige Summen. »Nein, danke. Mein Notebook ist gerade mal ein gutes Jahr alt.«
»Dann vielleicht Kleider? Oder Schuhe?«
Gleich wird sie mir einen Ausflug nach New York vorschlagen.
»Wenn du willst, kann ich auch zum Shopping nach New York fahren und dort für dich einkaufen. Ich weiß, dass ein Flug für dich jetzt noch nicht in Frage kommt, deshalb will ich dich auch gar nicht erst unter Entscheidungsdruck setzen.«
»Gib es zu – du hast eine Bank ausgeraubt.«
»Lediglich im übertragenen Sinn. Weißt du was? Denk mal drüber nach und sag mir dann Bescheid.«
Wie selbstzufrieden sie klang, dachte Kate. Noch Sekunden nachdem ihre Mutter aufgelegt hatte, stand sie da und starrte den Hörer an. Wie konnte man überhaupt eine Bank im übertragenen Sinn ausrauben? Irgendetwas stimmte da nicht!
George gab erste Lebenszeichen von sich. Kate hörte ihn vom Schlafzimmer ins Bad gehen und schob die besorgten Überlegungen bezüglich Roz beiseite, um Toast und Marmelade auf den Tisch zu stellen, Frühstücksspeck knusprig zu braten und eine große Menge Kaffee aufzubrühen. Die schlechten Angewohnheiten ihrer Mutter, auch wenn dabei viel Geld heraussprang, gehörten nicht zu den Dingen, über die sie mit George reden konnte.
»Wie fühlst du dich?«, erkundigte sie sich.
»Meinst du wegen gestern Abend?«
»Der Abend war meiner Meinung nach sehr gelungen. Ich habe mich nur gefragt, was zuvor vorgefallen sein mag.«
»Ich habe Emma noch nie betrunken erlebt. Zumindest nicht betrunken und derart aufsässig. Was war bloß in sie gefahren? Worüber habt ihr beiden geredet, als du zu ihr gegangen bist?«
»Ihre komische Laune hatte nichts mit mir zu tun. Ich habe ihr lediglich geholfen, etwas einigermaßen Tragbares zum Anziehen zu finden. Allerdings hatte sie sich vorher wohl mit Sam gestritten.«
»Und worüber?«
»Emma hätte gern noch ein Baby, Sam hingegen ist der Ansicht, dass es allmählich genug sind.«
»Sie haben jetzt sechs Kinder, nicht wahr?«
»Irgendwas in dieser Größenordnung. Manchmal kommt es mir erheblich mehr vor.« Kate wusste nie genau, wie viele Kinder Emma tatsächlich hatte, doch sie zu
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