Schatten über Oxford
fragen wäre ihr ausgesprochen unhöflich vorgekommen. Auch George schien sich der genauen Anzahl seiner Neffen und Nichten nicht ganz sicher zu sein.
»Der arme Sam. Er hat sich doch gerade erst von seinem Fahrradunfall erholt. Was ist bloß los mit Emma?«
»Sie meint, der kleine Jack braucht unbedingt ein Brüderchen oder Schwesterchen, dabei hat er jede Menge Geschwister in allen Altersstufen und Größen. Mir scheint, Emma fehlt in ihrem Leben etwas und sie hat das Bedürfnis, diese Leere mit Babys aufzufüllen.«
»Aber ihr Leben ist doch ausgefüllt genug«, wandte George ein. »Eigentlich sogar zu voll. Sie schreibt Bücher, sie arbeitet als Lehrerin, sie schmeißt den Haushalt, und sie kümmert sich um Sam.«
»Aber worum geht es dann?«
»Sie scheint Sam und mir plötzlich zu verübeln, dass wir einer gediegenen Mittelklasse-Familie entstammen.«
»Mir ist klar, dass eine solche Herkunft heutzutage geradezu als Beleidigung angesehen wird, trotzdem glaube ich, dass mehr dahintersteckt«, sagte Kate langsam. Emmas Groll hatte weniger mit der vermeintlichen Rechtschaffenheit und dem sozialen Status der Familie Dolby zu tun, sondern mit dem Verdacht, dass einige Familienmitglieder Schwindler sein könnten. Aufrechte Menschen, die ihre Kellertüren bewachten, weil sich dahinter die Leichen geradezu türmten. Das Bild gefiel ihr. Sie würde es gleich in ihr Heft notieren.
»Und du?«, fragte George. »Bist du auch ihrer Ansicht? Gestern Abend hast du dich nicht gerade angestrengt, sie von diesem Thema abzubringen.«
»Ich habe sie dazu gebracht, ihre Brokkoli aufzuessen. Ich habe ihr sogar heimlich das Weinglas entwendet und so getan als wäre es meins. Was erwartest du mehr?«
Beiden war klar, dass sie seine Frage nicht beantwortet hatte.
»Du bist schon sehr lange mit Emma befreundet«, sagte George.
»Trotzdem sind wir längst nicht in allen Dingen einer Meinung.« Kate stellte fest, dass sie dabei war, sich zu verteidigen. Wie konnte es dazu kommen?
»Aber du hast in den Sachen dieses Jungen herumgeschnüffelt. Manchmal habe ich den Verdacht, dass du deine Schriftstellerei nur als Alibi benutzt, um alte Wunden aufzureißen. Hast du auch mit Emma über diese Kinder gesprochen?«
»Nein, habe ich nicht. Aber warum hast du mir verschwiegen, dass ihr – du und Sam – die Dose schon vor vielen Jahren gefunden habt?«
»Weil ich es vergessen hatte! Aber das habe ich dir doch schon gesagt.«
»Und du hast auch nicht gewusst, dass der Junge während seines Aufenthaltes hier im Haus gestorben ist?«
»Nein.« Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. So, als hätte George geahnt, dass sie die Frage stellen würde, und sich die Antwort schon im Voraus überlegt.
Kate fragte sich, ob sie das zweite Schatzkästchen zur Sprache bringen sollte. Hatten George und Sam es ebenfalls gefunden? Wenn sie es aber verschwieg, war das nicht Täuschung? Sie versuchte es auf andere Weise.
»Und was geschah mit Elinor Marlyn?«
»Was meinst du mit ›geschah‹? Sie lebte ihr Leben und starb einen friedlichen Tod«, erwiderte George knapp.
»Soviel ich weiß, starb sie kurz nach dem Krieg. Sie kann also nicht sehr alt geworden sein.«
»Sie war uralt«, sagte George. »Und sie starb viele Jahre nach dem Krieg.«
Nun, vielleicht sollte Kate doch lieber George glauben als Violet Watts, die vermutlich längst senil war. War es sinnvoll zu fragen, ob Elinor Selbstmord begangen hatte?
Wieder klingelte das Telefon und half ihr, die Entscheidung hinauszuzögern.
»Für dich. Es ist Elspeth.« Zumindest konnte Kate damit punkten, dass sie mit einer Pfarrerin befreundet war. Es gab doch nichts Besseres als die Kirche von England, um die eigene Seriosität unter Beweis zu stellen! Eines Tages musste sie Roz unbedingt fragen, ob sie als Baby getauft worden war, und wenn ja, nach welcher Religion. Allerdings traute sie Roz nicht zu, konventionell gehandelt zu haben. Wer weiß, vielleicht war sie ja Buddhistin oder Mitglied irgendeines Hexenzirkels.
Kate nahm George das Telefon aus der Hand. »Hallo Elspeth!«, sagte sie. »Heute ist doch Samstag. Müssen Sie nicht arbeiten? Leute verheiraten oder Ähnliches?«
»Das erledigt heute einer meiner Vikare. Ich habe frei und wollte fragen, ob wir uns nicht noch ein paar dieser Kassetten anhören wollen. Ich glaube nämlich, dass Sie Ihre Hausaufgaben nicht richtig gemacht haben. Meiner Meinung nach sollten Sie die in der vergangenen Woche gemachten Fortschritte festigen
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