Schatten über Oxford
obwohl auch Miss Marlyn mit im Wagen saß. Sie hat sich nicht allzu sehr über Chris’ Tod gegrämt, sondern nur gesagt, dass man nun einmal nichts dagegen tun konnte. Sie war eine herzlose Frau. Trotzdem sagte niemand etwas gegen die Familie in dem großen Haus. So etwas tat man einfach nicht!«
Ja! Hier war tatsächlich von ihrem Christopher die Rede! Zwar erfuhr Kate nicht viel Neues, doch die Kassette bestätigte das, was sie bereits zusammengetragen hatte.
»Kennen wir den Namen dieses Sprechers?«, fragte sie Elspeth, nachdem die erste Seite der Kassette abgespielt war.
»Brian Edwards«, las Elspeth von dem Aufkleber auf dem Plastikgehäuse ab.
»Ob man ihn noch finden kann?«
»Schon. Allerdings nur auf dem Friedhof. Nein, stimmt ja gar nicht!«
Hoffnungsvoll sah Kate sie an.
»Er ist eingeäschert worden«, sagte Elspeth.
»Schade. Aber das erinnert mich daran, dass ich gern noch einmal einen Blick in Ihr Gräberverzeichnis werfen würde. Dieses Mal interessiert mich Elinor Marlyn. Mrs Watts hat mir nämlich erzählt, dass Miss Marlyn Ende 1945 gestorben wäre, doch dann habe ich von jemandem gehört, dass sie erst sehr viel später das Zeitliche gesegnet haben soll.« Elspeth musste nicht unbedingt erfahren, dass es sich bei diesem Jemand um George handelte und dass sie zu diesem Zeitpunkt eine kleine Auseinandersetzung gehabt hatten.
»Verstehe. Wollen Sie noch mehr von diesen Kassetten hören?«
»Was halten Sie davon, einige davon mit ins Pfarrhaus zu nehmen?« Kate stapelte ein halbes Dutzend Kassetten aufeinander. »Mit denen hier bin ich fertig; Sie können sie in aller Ruhe im Pfarrhaus hören.«
»Sie wollen mich loswerden«, stellte Elspeth heiter fest. »Ich verstehe Sie nur allzu gut. Ich kann eine wahre Plage sein, weil ich den Leuten immer wieder auf die Pelle rücke. Umso mehr, als ich endlich eine Seelenverwandte gefunden habe.«
»Ich hole meine Jacke«, verkündete Kate. »Wir könnten uns vielleicht noch kurz das Gräberverzeichnis anschauen.« Anschließend, so überlegte sie, könnte sie im Centre for Oxfordshire Studies überprüfen, ob in den Zeitungen über Elinor Marlyns Tod berichtet worden war.
»Das geht leider nicht«, sagte Elspeth, als Kate ihr auf dem Weg zur Kirche von ihren Plänen berichtete. »Dort ist heute geschlossen. Sie werden wohl oder übel bis Montag warten müssen.«
Mist!
Die Kirche zu betreten war dieses Mal viel weniger schwierig als beim letzten Mal, fand Kate. Und das Gräberverzeichnis verriet ihnen, dass Elinor Marlyn im Dezember 1945 beerdigt worden war.
»Ich dachte immer, dass man nicht auf dem Friedhof begraben wird, wenn man Selbstmord begangen hat«, überlegte Kate laut.
»Wie kommen Sie darauf, dass sie Hand an sich gelegt haben könnte?«
»Ach, das ist mir zu Ohren gekommen. Aber vielleicht hat sich die Dame, die es mir erzählt hat, auch geirrt.«
»Sie sprechen nicht etwa von Mrs Watts, oder?«
»Schon möglich.«
»Sie ist eine alte Klatschbase, und ich glaube, ihr Erinnerungsvermögen lässt allmählich zu wünschen übrig.«
Trotzdem hatte Violet Watts Recht, was das Todesjahr von Elinor Marlyn anging, dachte Kate.
In der Sakristei verabschiedete sie sich von Elspeth und schlenderte über den Friedhof. Nachdem sie schon einmal hier war, konnte sie auch noch schnell nach Elinor Marlyns Grab suchen. Beim letzten Mal war ihr der Grabstein nur deshalb nicht aufgefallen, weil er recht versteckt unter einer Eibe stand.
Kate las die Inschrift. Elinor war erst fünfundvierzig Jahre alt gewesen, als sie starb. Nach heutigen Maßstäben kein Alter – aber war das auch vor einem halben Jahrhundert schon so gewesen?
Kate wanderte zwischen den Grabsteinen herum und sah sich um. Die Thomasines und Ediths in der Nachbarschaft schienen größtenteils achtzig oder gar neunzig Jahre alt geworden zu sein. Lediglich High Corner stellte sich als ausgesprochen ungesunde Adresse heraus. Was mochte wohl aus der kleinen Susan geworden sein, deren Nase ständig lief?
Langsam ging Kate zurück nach High Corner – nein, natürlich in die Cavendish Street 74. Ob George wirklich vergessen hatte, wann seine Großtante gestorben war? Sie selbst kannte nicht ein einziges Todesdatum aus ihrer Familie – abgesehen von dem ihres Vaters –, doch sie war auch keine Dolby. Jedenfalls noch nicht. Wahrscheinlich nie.
Elinor Marlyn war lange vor Georges Geburt gestorben und hatte das Haus ihrer Nichte hinterlassen – jener Nichte, die mit ihrer
Weitere Kostenlose Bücher