Schatten über Oxford
gleichaltrig und gingen in dieselbe Klasse. Wir kamen prima miteinander aus. Wir mochten uns, und wir wurden Freunde.«
»Sind Sie je bei ihm zu Hause gewesen?«
»Seine Unterkunft – so wurde es damals genannt – war High Corner. Ein riesiges, schickes Haus, aber die Frau, die dort das Regiment führte, war ein wahrer Drache. Ich wurde niemals eingeladen. Niemand wurde dorthin eingeladen. Aber einmal habe ich hineingeschaut, und für mich war es wie ein Palast. Ich erinnere mich an unheimlich viel Licht und an den Duft von richtigem Essen, das auf dem Herd stand.
Es muss im Herbst vor Christophers Tod gewesen sein, denn ich entsinne mich, dass wir leere Marmeladengläser gesammelt haben. Wir gingen von Haus zu Haus und sammelten die Gläser in einem Wägelchen, das wir abwechselnd zogen. High Corner lag auf unserem Weg, und daher schlug ich vor, dass wir auch dort klingeln sollten. Weil Chris mich herausforderte, ging ich nicht zur Küchentür hinter dem Haus, sondern klingelte vorn.
Sie hätte mit all diesem Licht nicht so protzen dürfen. Sie hatte sogar einen Kronleuchter. Ich glaube, es war das erste Mal im Leben, dass ich einen Kronleuchter sah. Es war noch in der Zeit der Stromausfälle. Sie hätte das Licht nicht so zeigen dürfen. Aber ihr war das egal, das habe ich gemerkt.«
»Hat sie Ihnen wenigstens die Marmeladengläser gegeben?«
»Ich glaube, sie wusste nicht einmal, wie ein Marmeladenglas aussieht. Solche Dinge überließ sie Violet Watts.«
»Kannten Sie Violets Schwager Danny?«
»Jeder kannte Danny. Er war unser hiesiger Hehler. Ich traf ihn fast jeden Tag. Er und seine Kumpels picknickten im Sommer gern draußen vor dem Pub. Sie schickten einen hinein, um einen Krug Bier zu holen, und dann saßen sie draußen auf dem Mäuerchen, aßen ihre Brote und tranken Bier. Meine Eltern hatten mir verboten, mit ihm zu sprechen. Schließlich waren wir eine ehrbare Familie. Wirklich!« Er lachte.
»Haben Sie Christopher im Krankenhaus besucht? Hat er noch mit Ihnen gesprochen?«
»Sie haben ja eine Menge Fragen auf Lager! Geben Sie mir wenigstens Gelegenheit, kurz nachzudenken. Ja, ich habe ihn einmal besucht. Öfter hätte keinen Sinn gemacht. Er war ohne Bewusstsein.« Shawn seufzte. »Der arme Kerl. Die Sache ist mir sehr nahegegangen. Es war das erste Mal, dass einem Menschen in meiner unmittelbaren Nähe etwas so Ernstes zustieß.«
»Hat er etwas gesagt?«
»Was sollte er gesagt haben? Nein, er konnte nicht mehr sprechen. Aber ich habe auch Susie besucht.«
»Die hätte ich jetzt beinahe vergessen.«
»Sie war ein komisches Mädchen. Ich glaube, sie fühlte sich hier in Oxford ganz wohl, obwohl es so weit von zu Hause weg war. Allerdings glaube ich nicht, dass sie Miss Marlyn besonders gern hatte.«
»Vermutlich hat Susie auch nichts gesagt, oder?«
»Sie sagte nie sehr viel. Allerdings hatte ich dort im Krankenhaus den merkwürdigen Eindruck, dass sie etwas verbergen wollte. Als hätte sie etwas zu sagen gehabt, aber es sollte ihr Geheimnis bleiben. Wäre sie älter gewesen, hätte ich ihren Gesichtsausdruck ›durchtrieben‹ genannt.«
»Merkwürdig. Ich frage mich, was es gewesen sein könnte.«
»Wahrscheinlich nichts Wichtiges. Sie war damals höchstens sieben Jahre alt. Ich glaube nicht, dass sie etwas wusste. Nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, ging sie sofort zurück nach London. Ich habe nie wieder mit ihr gesprochen. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.«
»Ist sie zu ihrem Onkel gezogen?«
»Ich nehme es an. Ihre Mutter war krank, und ihr Vater wurde vermisst. Chris’ Onkel Alan, der Bruder des Vaters, kümmerte sich um Mutter und Kinder.«
»Sie hatten nicht zufällig Kontakt zu ihm?«
»Nein. Dafür gab es keinen Grund. Aber ich kenne jemanden, der das hatte.« Shawn klang richtig glücklich, dass er helfen konnte.
»Wer denn?«
»Die junge Frau, die für die Unterbringung zuständig war – Naomi King. Sie wollte sich auf dem Laufenden halten, wie es mit Susie weiterging. Naomi machte sich große Vorwürfe wegen des Unfalls, und ich glaube, sie ist auch später mit dem Onkel in Kontakt geblieben. Ich glaube, sie hatte immer das Gefühl, dass Christophers Tod irgendwie auch ihre Schuld war. Obwohl da absolut nichts dran ist! Es ist halt passiert. Naomi King wohnt hier irgendwo in der Umgebung und ist sicher leicht zu finden.«
»Ich habe ihre Wohnung schon gefunden«, sagte Kate. »Leider kam ich zu spät. Sie ist vor zwei Wochen
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