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Schatten über Sanssouci

Schatten über Sanssouci

Titel: Schatten über Sanssouci Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: O Buslau
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keinen Unterschied zwischen dem Verhalten
eines Verbrechers und dem eines vorbildlich handelnden Bürgers?
    Quantz’ Herzschlag
beschleunigte sich, so nervös machte ihn das Gelesene. Es war obszön, krank,
illoyal, verwerflich. Da kam ihm der Gedanke, dass es sicher gefährlich war,
diese Schriften bei sich aufzubewahren. Was, wenn die Soldaten sein Haus noch
einmal durchsuchten? Und wenn man dann diese Texte bei ihm fand?
    Immerhin schrieb La
Mettrie Französisch – eine Sprache, die vielleicht manche Offiziere ganz
leidlich beherrschten, aber sicher nicht die einfachen Grenadiere. Und es war
ja nicht seine Handschrift. Das bot einen gewissen Schutz.
    Quantz nestelte ein
Schnupftuch hervor und tupfte sich die Stirn ab, auf der sich Schweiß gebildet
hatte. Er blätterte weiter, kämpfte sich durch die fliegenden Buchstaben, die
aussahen, als hätten sie keinen Umweg über irgendeine prüfende Instanz im Bewusstsein
des Autors genommen, sondern als wären sie geradezu aus dem Gehirn auf das
Papier geflossen.
    Begeben
wir uns zurück in unsere frühe Kindheit, und wir befinden uns dort, wo das
Schuldgefühl entsteht …
    Kindheit? Wie kam La
Mettrie auf so etwas? Quantz bemühte sich, die folgenden Zeilen zu begreifen,
in denen La Mettrie eine weitere unglaubliche These aufstellte: Erlebnisse in
der Kindheit, sogenannte Prägungen, seien für das verantwortlich, was man als erwachsener
Mensch als Gut oder Böse empfand. Und wenn man später Böses tat oder nicht gut
handelte, obwohl es ja gar nicht böse sein konnte, weil es ja kein Gut und kein
Böse gab – dann entstanden Schuldgefühle. Und Schuldgefühle hätte La Mettrie am
liebsten sofort abgeschafft, denn in seinen Augen waren Schuldgefühle
überflüssig.
    Schuldgefühle
sind nichts anderes als das Aufleben alteingeschliffener Gewohnheiten. Die
ärgsten seiner Feinde trägt der Mensch also in seinem Inneren.
    Darauf ritt La
Mettrie immer und immer wieder herum: Es gab keine Schuld. Keine Regeln. Keine
Moral. Nur diese angeblich völlig überflüssigen und lächerlichen Schuldgefühle,
die La Mettrie auf Prägungen in der Kindheit zurückführte und von denen er mit
seinen Schriften die Menschheit befreien wollte.
    Quantz legte das
Blatt erst achtlos zur Seite, doch dann besann er sich und sortierte die Bögen,
auf denen die umstürzlerischen Zitate standen.
    Wenn er am frühen
Abend noch gezögert hatte, war er nun vollkommen sicher: Der König musste von
diesen Ungeheuerlichkeiten erfahren. Natürlich wusste Seine Majestät, dass er
sich einen lockeren Vogel eingefangen hatte. Das Buch, in dem La Mettrie
behauptete, der Mensch sei eine Maschine, war ja bereits vor einiger Zeit
gedruckt worden. Aber dieses neue Buch hier war gerade erst im Entstehen. Und
darin wurde geistiger Umsturz vorbereitet.
    Friedrich war
tolerant, gewiss. Aber würde er auch Thesen zustimmen, die seine eigene
Autorität untergruben? Die unter Umständen den Feinden Preußens in die Hände
spielten?
    Wer keine
Schuldgefühle hatte, konnte ja auch einfach den König verraten. Er brauchte nur
La Mettrie zu lesen, um zu dem Schluss zu kommen, dass Moral, Treue und andere
Werte, die in einem Staatswesen unverzichtbar waren, nur auf Einbildung beruhten.
Jeder konnte tun und lassen, was er wollte. Hauptsache, man war glücklich,
Hauptsache, man fühlte sich wohl.
    Jedes Verbrechen war
nicht nur erlaubt, sondern sogar gerechtfertigt, weil es ja laut Herrn La
Mettrie keines war. Diebstahl, Mord, Verrat. Nicht nur Verrat – auch Desertion!
    Der Franzose war also definitiv schuldig. Als geistiger Drahtzieher, wie
hier zu lesen war.
    Oder sogar darüber
hinaus?
    Quantz’ Wangen
glühten vor Aufregung. Er war auf der sicheren Seite. Der Franzose war
überführt. Er würde sich nicht herausreden können. Quantz hatte den Frevler in
der Hand.
    Doch irgendetwas
sagte ihm, dass dies hier nur der Anfang war. Ein Stück von einer großen
Hofintrige, die wahrscheinlich noch weitere Kreise zog und die auch den Mord an
Andreas Freiberger, den Tod des Soldaten Trakow und die Desertion dieses
Sperbers berührte. Ganz sicher. Es konnte gar nicht anders sein.
    Er arbeitete
fieberhaft weiter und fand voller Befriedigung immer neue verwerfliche Zitate.
Da stieß er auf anderes Papier in einem anderen Format. Eine andere Schrift. Es
war ebenfalls Französisch, aber es schien sich nicht um ein philosophisches
Traktat zu handeln, sondern um eine Erzählung.
    Eradice
kniete auf dem Fußboden; ihre Arme hatte sie

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