Schatten über Sanssouci
aufsteigenden Dreiklang in D-Dur
im Kopf. Im Rhythmus des Gehens wurde er zu einer Marschmelodie. Fast musste
Quantz lachen. Ein Marsch: Das konnte Friedrich doch gefallen. Aber nein, das
wollte Seine Majestät nicht. Keine Märsche! Märsche gehörten auf den
Exerzierplatz oder zur Parade im Lustgarten des Stadtschlosses, doch nicht nach
Sanssouci. Je mehr Quantz sich diesen Grundsatz einhämmerte, desto deutlicher
fraß sich die Melodie in seinem Kopf fest. Es war zum Verzweifeln!
Er hatte das
Gasthaus »Zur Goldenen Krone« bereits hinter sich gelassen und kam an die
Stelle, wo der Kanal nach Süden abbog. Die Wache, von Öllampen und Fackeln
beleuchtet, war nur wenige Dutzend Schritte entfernt.
Es war besser, den
Patrouillen aus dem Weg zu gehen. Quantz folgte, immer seine kleine, alberne
Melodie im Kopf, der Waisenstraße in Richtung der nördlichen Stadtgrenze. Auf
der Brandenburger Straße wich er einem Trupp Soldaten aus und folgte der
Lindenstraße. Er schwor sich gerade, nicht eher nach Hause zurückzukehren, bis
ihm eine andere vernünftige Idee für sein Konzert gekommen war, da trat er auf
einen kleinen Platz und stand vor dem Jägertor.
Der gelbe Schein der
Lampen und Fackeln reichte bis auf die Krone des gemauerten Tores hinauf, bis
zur Darstellung des im Kampf mit Jagdhunden gefallenen Hirschen, der von zwei Verzierungen
eingerahmt wurde, deren tieferer Sinn bei so manchem Betrachter erst auf den
zweiten Blick erkennbar wurde. Viele hielten die beiden eiförmigen Gebilde, die
jeweils von einem Kranz aus vier gezackten Auswüchsen umgeben waren, für eine
exotische Art von Blumen. Doch es handelte sich um etwas weit
Furchteinflößenderes: Es waren Darstellungen von explodierenden Granaten. Der
Anblick setzte in Quantz etwas frei, eine Kette von schnellen Noten, die den
Dreiklang übertrumpfte und ihm auf der obersten Note eine Verzierung aufsetzte.
Die Wachen, die sich
vor dem kleinen Fachwerkhaus auf der rechten Seite des Tores aufhielten, wurden
auf ihn aufmerksam. Eine von ihnen rief Quantz etwas zu. Wieder spielte sich
das alte Ritual ab. Er wurde von Bajonetten bedroht und befragt. Immerhin
gelang es ihm diesmal, die Soldaten davon zu überzeugen, dass er allein nach
Hause gehen konnte. Als sie ihn ziehen ließen, war das musikalische Motiv schon
wieder in sich zusammengefallen. Es wollte auch nicht zurückkehren, als er ein
gutes Stück die Nauensche Straße hinunterlief.
Das Glockenspiel von
der Garnisonkirche erklang. Quantz verwünschte die Kirchenchoräle, die den
letzten Rest der eigenen Musik aus seinem Kopf vertrieben. Nun stand er seinem
Haus gegenüber am Kanal und wusste nicht weiter.
Die Läden waren
verschlossen, sonst hätte Quantz vielleicht in Sophies Stube Licht entdecken
können. Etwas trieb ihn an, hinüberzugehen und weitere Ideen in seinem
Arbeitszimmer zu suchen. Doch er wusste, dass es keinen Zweck hatte. Wenn er
nur in der Lage wäre, wie Andreas die Noten systematisch zu neuen Kombinationen
zusammenzusetzen, zu inspirierenden neuen Motiven … Als hätte man das
Grundprinzip verstanden, das aus einer willkürlichen Tonfolge etwas Beseeltes
machte. Als sei man ein Schöpfer, der toter Materie das Leben einhauchte.
»Ihr braucht
Andreas, nicht wahr?«
Quantz vereiste
innerlich. Für einige lange Sekunden setzte sein Herzschlag aus.
Wer hatte da
gesprochen? Woher war die Stimme gekommen? War es überhaupt eine Stimme
gewesen? Es hatte mehr wie ein Flüstern geklungen, war kaum lauter gewesen als
der Wind, der durch die Blätter der Bäume strich.
Andreas … Quantz
hatte gerade an ihn gedacht. Hatte jemand seine Gedanken gelesen?
»Bleibt stehen, aber
lasst Euch nichts anmerken.«
Quantz drehte sich
um. Ein Stück weiter lag das Haus, das seit einigen Wochen abgerissen wurde.
Hatte sich dort ein Schatten bewegt? Aber die Stimme war viel näher.
»Wer ist da?«, rief
er. »Wer hat da gesprochen?«
Seine eigene Stimme
kam ihm laut vor. Auf seine Frage folgte nur das Wispern des Windes in den
Bäumen.
Er ging ein Stück.
Das Geräusch seiner eigenen Schritte auf dem Pflaster schien sich verdoppelt zu
haben. Er drehte sich um und sah gerade noch eine Gestalt, die in die Nauensche
Straße einbog. Er lief hinterher und erkannte etwas Dunkles, das sich vor dem
Hintergrund der nächtlichen Plantage bewegte.
Der große Platz war
ein Ort vollkommener Finsternis. Tagsüber konnte man hier das Grün genießen und
auf geharkten Wegen spazieren gehen. Das Gelände, ein
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