Schattenauge
war bei der Polizei bekannt und … ich kannte ihn auch.« Meine Augen waren so trocken, dass sie brannten. Ich musste mich dazu zwingen zu blinzeln, um wenigstens die schlimmsten Bilder zu vertreiben. »Ich hatte nicht gewusst, wen ich vor mir hatte. Als sie mich zu jagen begannen, habe ich die Gesichter nicht erkannt. Und im Flashback sah ich nur ihre Schatten. Erst als ich wieder zu mir kam und den Mann unten liegen sah, erkannte ich, dass es Khaled war. Ein Kumpel von meinem Schwager, ein Landsmann, der schon ein Jahr früher nach Paris gekommen war. Was er genau machte, wusste kein Mensch, er schlug sich irgendwie durch. Ghaezel vermutete, dass er mit gefälschten Markenuhren handelte, und wollte nicht, dass ihr Mann sich mit Khaled traf. Khaled war ein witziger Kerl, irgendwie mochte ich ihn sogar. Aber nun erkannte ich, dass er schon am Tag meiner Ankunft gewusst hatte, dass ich ein Läufer war. Und dass er einen ganz anderen Charakter hatte, wenn er im Schatten war. So wie ich auch. So wie jeder von uns, Zoë!«
Zoë wusste, sie hätte entsetzt oder zumindest erschrocken sein sollen, aber seltsamerweise gelang es ihr nicht. Im Gegenteil: Ihr kam es vor, als würde sie Gil zum ersten Mal wirklich sehen. In diesem Augenblick fügte sich alles zusammen und ergab endlich ein logisches Bild. Sie verstand seinen Widerwillen, seine Zerrissenheit und seine Angst vor der anderen Seite. Und auch den düsteren Glanz der Schuld, der ihn umgab.
»Ich bin einfach weggegangen«, schloss er. »Ohne meinen Pass in der Tasche, ohne Papiere, ohne einen Abschied. Weil ich mich an den Moment erinnerte, in dem für mich nichts mehr zählte.« Er hob den Blick. Seine Augen schienen zu glühen wie dunkle Flammen. »Verstehst du jetzt?«, sagte er sanft. »Auch dein Schatten kann dich zum Mörder machen. Zur Bestie.«
»Du bist kein Mörder!«, rief Zoë mit einer Bestimmtheit, die sie an sich selbst nicht kannte. »Du hast um dein Leben gekämpft und dich verteidigt. Es war ein Unfall. Und du hast nur einen Teil des Flashbacks gesehen, aus dem du alles andere schließt.«
Er antwortete nicht, aber sie konnte ihm ansehen, dass ihm diese Erklärung nicht genügte – und niemals genügen würde. Im Schein der Glühbirne betrachtete sie jeden Schatten und jede Linie in seinem Gesicht. Sie öffnete schon den Mund, um ihm zu sagen, dass sie in ihm keinen Mörder sehen konnte und ihm vertraute wie niemandem sonst – doch plötzlich kamen ihr alle Worte hohl und unglaubwürdig vor. Der Impuls kam ganz von selbst – ein sanftes Ziehen irgendwo in ihrer Brust, ein Sog, dem sie sich nicht widersetzen wollte. Sie machte einen Schritt auf Gil zu, nahm seine Aura wahr, das aufgeladene Flimmern von Rückzug und Sehnsucht.
Was tust du da? , schoss es ihr durch den Kopf, als sie noch einen weiteren Schritt wagte, obwohl sie Gils Abwehr spürte. Als würde die Luft sich dagegen sträuben und knistern. Sie konnte die Wärme seines Atems auf ihrem Gesicht spüren. Was, wenn er mich zurückstößt? Was, wenn wir nicht mehr das empfinden, was Menschen dabei fühlen? Küssen sich Panthera überhaupt? Lieben sie sich? Für einen Sekundenbruchteil meldete sich auch ihre vernünftige Stimme: Was soll das werden? Du hast gerade erst eine gescheiterte Liebe hinter dir.
Dann hüllten schon alle Facetten von Wüstensand bis zu Sandelholz sie ein wie ein warmer Schleier, Hautduft – ein Bild von Gil, das sie auch in absoluter Dunkelheit vor sich gesehen und gespürt hätte. Und plötzlich war es einfach. Sie überließ sich ihm – so wie auf der Brücke, als sie beschloss, die Strebe loszulassen. Er wich nicht zurück, als sie die Arme um seinen Hals legte. Diesmal hing ihr Leben nicht davon ab. Aber vielleicht deines, Gil?
Wie in Trance nahm ich wahr, dass sie die Arme um meinen Hals schlang und mich küsste. Ich hatte mich immer gefragt, wie es sein würde – und ob es sein durfte. Hatten wir Gefühle wie Menschen? Oder galten nur noch die Instinkte? Nun erfuhr ich, dass ich mich in jedem einzelnen Punkt geirrt hatte. Es fühlte sich vollkommen richtig an. Und es überwältigte mich ganz und gar: kühle Lippen, ihr Duft, der mich schwindelig machte. Es war wie ein Eintauchen in eine andere Welt. Tasten und riechen, eine Wahrnehmung, die wie ein Sehen mit allen Sinnen war. Nur kurz blitzte das schrecklichste Bild in meinen Gedanken auf – das, was ich vor Zoë verheimlicht hatte: den Moment, als ich durch das Glas der Balkontür
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