Schattenauge
Versuchen kann man’s ja mal«, erwiderte er. »Aber vermutlich musst du dir keine allzu großen Sorgen machen. Zumindest nicht im Moment. Zurzeit steht sie offenbar mehr auf die geheimnisvollen Weltschmerz-Typen mit der dunklen Vergangenheit. Wa s …«, er hob vielsagend die linke Augenbraue, »… ja nicht zwangsläufig so bleiben muss.«
Immerhin spielte er kein falsches Spiel. Die Karten lagen auf dem Tisch. Trotzdem tat es mir leid, ihm gestern nicht noch ein zweites Veilchen verpasst zu haben.
»Mach dir nicht allzu viele Hoffnungen«, erwiderte ich kühl.
»Hoffnung ist was für Weicheier«, erwiderte er und grinste. »Also, wie sieht unser Plan aus?«
Ich blickte auf die Uhr über der Theke. Zehn nach neun und weder Zoë noch Gizmo waren bisher aufgetaucht.
»Zoë bringt die Schlüssel mit, ich gehe rein und schaue mich bei Rubio um. Vielleicht finde ich seine Fotos. Irgendwas hat es mit den Bildern auf sich. Du und Gizmo, ihr haltet draußen die Stellung und warnt mich, wenn einer von der Gemeinschaft aufkreuzt. Zweimal klingeln, dann komme ich runter.«
Irves war schlagartig ernst geworden. »Gut. Dann fehlen jetzt also nur noch fünfzig Prozent unserer Gang.«
Ich nickte und zückte das Handy. Gerade als ich Zoë anrufen wollte, sah ich sie zu meiner Erleichterung schon aus der U-Bahn-Station kommen. In diesem Moment war es mir plötzlich sogar egal, dass Irves mitbekam, was mit mir los war. Wow! Das war eine ganz neue Art von Flashback. Einer in Farbe, ein Feuerwerk aus Euphorie und Sehnsucht, Triumph und Fassungslosigkeit. Mein Mädchen! Ich hatte gedacht, ich könnte ganz neutral bleiben und so tun, als wäre gestern Nacht nichts gewesen. Aber jetzt konnte ich nicht anders, als sie einfach nur anzustarren wie ein verliebter Idiot. (Verliebt, hoffnungslos verloren?)
Sie zögerte auf der letzten Treppenstufe, sah sich gehetzt zum Café um und entdeckte mich. Ihr Lächeln entfachte das nächste Feuerwerk in meinem Inneren. Sie winkte mir zu, nach draußen zu kommen, ließ ihren Blick kurz über den Platz schweifen und ging dann schnurstracks auf Rubios Haus zu. Das holte mich mit einem Schlag auf den Boden der Realität zurück. Warum kam sie nicht zu uns? Aber dann erkannte ich, dass sie nicht allein war. Meine Freude darüber, sie zu sehen, verwandelte sich in Bestürzung. Sie hatte einen kleinen Jungen an der Hand und eilte mit ihm über den Platz.
»Was soll das denn?«, fragte Irves mit gerunzelter Stirn.
»Das frage ich mich allerdings auch«, murmelte ich und sprang auf. »Halte die Augen offen!«
Zoë stand schon vor Rubios Tür, als ich zu ihr trat. Bei meinem Anblick huschte wieder dieses Lächeln über ihr Gesicht und für eine Sekunde war die gestrige Nacht ganz nah.
»Das ist mein Bruder Leon«, sagte Zoë leise und deutete auf den Jungen. »Leon, das ist Gil, ein … ein Freund von mir.«
Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Hallo.« Mehr brachte ich nicht heraus.
Leon kniff die Augen zusammen, musterte mich für einen Moment misstrauisch, dann schien er zu akzeptieren, dass ich dazugehörte, und murmelte etwas, das wie ein Hallo klang. Er war ein hübscher Junge. Die Ähnlichkeit mit Thierrys trotzig frechem Blick gab mir fast den Rest. Zoë zog ein rotes Schlüsselmäppchen unter einem Stoffband an ihrem Handgelenk hervor und trat ohne weitere Erklärungen zur Tür. Sie war blass und ich konnte sehen, dass ihre Hände zitterten.
»Warum bringst du deinen Bruder mit?«, flüsterte ich ihr zu. Sie zuckte verlegen mit den Schultern. »Ich habe dir doch erzählt, dass ich Streit mit meiner Mutter hatte. Heute Morgen hat es richtig geknallt. Da ist sie einfach gegangen und hat mich mit Leon sitzen lassen. Ich habe sofort Paula angerufen, aber sie war nicht da. Und ich kann ihn ja schlecht allein in der Wohnung lassen!«
»Nein, da ist es auf jeden Fall besser, ihn zu den Panthera mitzunehmen«, erwiderte ich. Die Stimmung kippte auf der Stelle. Jetzt konnte ich ihre ganze Ratlosigkeit spüren, die Nervosität und Sorge um den kleinen Bruder, und schalt mich für meine sarkastische Bemerkung.
»Jetzt mach du mir nicht auch noch Vorwürfe!«, fuhr Zoë mich an.
Ich leckte mir nervös über die Lippen. Ich fühlte mich alles andere als wohl, hier vor Rubios Tür, gefasst darauf, dass jederzeit Julian & The Gang hier aufkreuzen könnten. »Sollen wir ihn dann nicht lieber zu Irves ins Café bringen?«, schlug ich vor.
Besorgt sah sie über die Schulter und schüttelte den
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