Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
Vom Netzwerk:
diese Verletzlichkeit. Für die Liebe und Behutsamkeit diesem kleinen Jungen gegenüber. Für die Hoffnung, die sie mir dadurch gab.
    Leon nickte und spielte weiter, ohne aufzublicken. Wir gingen hinaus und schlossen die Tür zur Dachkammer.
     
    Ganz von selbst fanden sich auf dem Weg nach unten ihre Hände, verflochten sich die Finger. Die Berührung war immer noch fremd, umso fester umschloss Zoë Gils Linke. Sie war kräftig und sehnig und Zoë erinnerte sich mit einer seltsamen Scheu daran, wie Gil sich an den Streben der Brücke hochgezogen hatte: ruhig, überlegt und mit dieser verhaltenen Kraft, die er auch jetzt ausstrahlte. Es war nicht die richtige Zeit dafür, doch hier, im gefährlich stillen Auge des Sturms, konnte sie nicht anders, als ihn verstohlen von der Seite zu mustern. Sie musste blind gewesen sein, als sie sich an der Bushaltestelle mit ihm gestritten hatte. Immer noch strahlte er dieses Dunkle, Bedrohliche aus, aber seit gestern erschien es ihr wie ein düsterer Glanz, der ihm trotz seiner herben Gesichtszüge etwas Leuchtendes und Schönes verlieh. Unwillkürlich musste sie lächeln. Gil! Sie konnte es immer noch nicht ganz begreifen. Er bemerkte ihren Blick und sah sie ebenfalls an. Sein Lächeln nahm ihr den Atem. Als hätte sie den stummen Impuls dazu gegeben, blieben sie beide vor der letzten Treppe zum zweiten Stock stehen. Zoë wartete nicht darauf, dass Gil sie an sich zog, sondern trat zu ihm. Sie betrachtete ihn lange – den Schwung des Mundes, die fast bronzefarbene Haut und die dunklen Augen, Katzenaugen mit pulsierenden Pupillen, die dennoch so menschlich waren, dass sie Gils ganze Zärtlichkeit darin sah. Sie dachte nicht länger nach, sondern küsste ihn einfach. Seine Lippen waren so warm, als hätte er Fieber – und die Berührung ließ die Hitze auf sie überspringen, entfachte einen Funkenregen von Empfindungen auf ihrer Haut. Sie schloss die Augen und sog den Duft nach Wüste ein. Es war verrückt, sich so zu vergessen. Oben saß Leon – und draußen lauerte die Gefahr. Irves wartete sicher ungeduldig darauf, dass sie das Haus wieder verließen. Und dennoch gab es für ein paar Sekunden nur noch sie und Gil auf dieser Insel zwischen den Treppen. Ein kleiner, geschützter Raum im Chaos, an dem sie sich geborgen fühlte. Als sie nach dieser Ewigkeit die Augen blinzelnd wieder öffnete, war es, als würde sie aus einem warm glühenden See auftauchen, noch schwindelig von Gils Duft und seinem Kuss. »Wir… müssen gehen«, sagte er mit heiserer Stimme. Seine Iris war schwarz, aber heute fürchtete sie sich nicht vor dieser Dunkelheit.
    »Ich weiß«, gab sie ebenso leise zurück. Doch ein, zwei Herzschläge lang blieben sie noch eng umschlungen stehen. Dann war es Gil, der als Erster wieder zur Vernunft kam und widerwillig einen Schritt Abstand zwischen sie brachte. Nur ihre Hände ließ er nicht los. Behutsam zog er ihre Rechte hoch und küsste sanft die Handfläche. »Wenn ich nicht aufhöre, dich zu küssen, verliere ich auch noch den letzten klaren Gedanken«, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln. Jetzt musste auch Zoë lachen.
    Gemeinsam gingen sie die Treppe zu Rubios Wohnung hinunter. Als hätten sie ihre Insel hinter sich gelassen, holte Zoë die Wirklichkeit bei jeder Stufe ein bisschen mehr ein. Ihre Hände fühlten sich klamm an, als sie die Wohnungstür aufstieß. Sie holte tief Luft und zwang sich dazu, sich wieder ganz auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Dann betraten sie Seite an Seite Dr. Rubios verbotenes Reich.
     
    In der Wohnung fand sich nichts. Leere Fotohüllen vom Drogeriemarkt auf dem Schreibtisch, das war die ganze Ausbeute. »Vielleicht in den Schränken«, sagte Zoë und ging in das zweite Zimmer. Im ersten Impuls wollte ich ihr folgen, doch dann riss ich mich zusammen und trat stattdessen zum Bett. Ich beugte mich zum Fensterbrett vor und spähte hinaus. Der Platz war leer, also öffnete ich das Fenster und blickte zum Café. Irves saß mit dem Handy im Anschlag direkt an der Frontscheibe. Er entdeckte mich und zuckte mit den Schultern: Immer noch kein Gizmo. Ich nickte, dann trat ich zum Schreibtisch und zog die Schublade auf. Unwichtige Papiere, Notizen, Gebrauchsanweisungen – doch auch, ganz unten, ein Foto. Ausgebleicht und grünlich verfärbt, mindestens zwanzig Jahre alt.
    Ich hob das vergilbte Bild ans Licht. Und vergaß für einen Augenblick die Zeit.
    Die Gemeinschaft! Barbara. Maurice. Julian und die anderen. Nur Rubio war

Weitere Kostenlose Bücher