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Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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nicht dabei. Vermutlich hatte er das Foto geschossen. Es gab mir einen Stich, die Gruppe zu sehen. Vielleicht weil alle Mitglieder einfach nur glücklich wirkten. Auf dem Foto waren sie kaum älter als wir. Lachend standen sie vor dem Planetarium. Auf einem Metall-Orbit saß Eve, zierlich, blond, mit strahlenden Augen. Glatze hatte noch Haare und führte sie in Form einer grottenhässlichen Achtzigerjahrefrisur spazieren, Schnauzbart inklusive. Marcus trug eine Bomberjacke und schwenkte eine Bierdose. Ganz am Rand stand ein junger Mann, der stolz eine Polizeimarke in die Höhe hielt, als hätte er sie gerade erst bekommen. Auch er lachte. Das musste Pablo sein. Das Schlimmste und das Beste an dieser Stadt – auf diesem Bild war es versammelt. Ungeheuer und Helden. Ich zögerte einen Moment, dann steckte ich das Foto kurzerhand ein und schob die Schublade wieder zu. Als ich zurücktrat, fühlte ich etwas unter meinem Fuß. Auf dem Boden, halb verborgen im hellen Teppich, lag eine winzige, zerbrochene Holzfigur. Es war der Löwenmensch aus der Steinzeit. Vielleicht war er vom Schreibtisch gefallen und jemand war daraufgetreten? Ich ging in die Hocke und spähte unter den Tisch. Es war einiges heruntergefallen: ein Brieföffner, Heftklammern und Kulis. Und mittendrin eine Visitenkarte, die wohl auf dem Tisch gelegen hatte, damit sie für Rubio in Reichweite war. Ich hob sie auf.
    »Gil?«
    Es war nicht mehr als ein Flüstern, aber da war etwas in Zoës Tonfall, das alle Alarmsirenen schrillen ließ. Ich steckte die Visitenkarte in meine Hosentasche und rannte los. Im angrenzenden Zimmer war sie nicht, also stürzte ich auf den Flur. »Zoë?« Ich wusste nicht, warum ich flüsterte. Außer uns war schließlich niemand im Haus.
    »Hier!« Ihre zitternde Stimme kam vom Ende des Flurs. Er machte eine Biegung, vielleicht zu einer weiteren Treppe oder einem Fenster? Lautlos lief ich dorthin, dem schmalen Streifen Sonnenlicht entgegen, das sich auf dem Linoleum fing. Als ich um die Ecke kam, prallte ich zurück. Zoë stand an die Wand gepresst da, die Hände flach an die Raufasertapete gelegt. Am Ende der Nische befand sich ein schmales, vergittertes Fenster mit einem Sicherheitsschloss, das nur von innen zu öffnen war. Es stand weit offen. Der Schlüssel steckte noch. Und davor … Rubios Rollstuhl! Leer. Von einem Augenblick zum nächsten war mir übel.
    »Ich wollte gerade den Kleinen holen, aber als ich auf den Flur kam, habe ich einen Luftzug gespürt«, flüsterte Zoë. »Aber ich … ich kann da nicht runterschauen.«
    Ich ahnte, was ich sehen würde, lange bevor meine Beine endlich gehorchten und mich zum Fenster trugen. Das Metall des Fensterrahmens strahlte Kühle ab, als ich mich vorbeugte. Ein Innenhof. Nein, eher ein Schacht. Von außen nicht zu erahnen, wenn man nicht gerade auf dem Dach herumkletterte. Graue, fensterlose Wände umschlossen einen trapezförmigen Platz, kaum zwei Quadratmeter groß.
    Und dort unten lag Rubio, die Wange am Stein. Sein rechtes Bein war angewinkelt, so als hätte ein Rettungssanitäter ihn in die Seitenlage gebettet, um Hilfe zu holen. Nur dass ihm niemand geholfen hatte. Und dass da nichts mehr zu retten war.
    »Dr. Rubio … er liegt da unten im Hof, stimmt’s?«, fragte Zoë leise.
    Ich konnte nur völlig betäubt nicken. Manchmal genügen auch zwei Stockwerke, um einen Panthera zu töten. Das Bild wurde unscharf, verschwamm und löste sich in Farbflecken auf. Erst als ich die Tränen auf meiner Wange fühlte, wurde es wieder klar. »Verdammt, Rubio!«, flüsterte ich. Ich schniefte und wandte den Blick ab. Als ich zurückstolperte, gelähmt vor Entsetzen, spürte ich plötzlich Zoës Arme um mich. Diesmal war sie es, die mich festhielt, und ich schämte mich nicht, mein Gesicht in ihrem Haar zu vergraben. Ihre Hand fand meinen Nacken, kühle Finger strichen tröstend über meine Haut.
    »Wir müssen gehen«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. »Wir müssen sofort den Kleinen holen und verschwinden. Am besten, wir rufen die Polizei. Er hat sich nicht selbst umgebracht!«
    Nein, garantiert nicht . Meine Gedanken rasten, ich versuchte mir vorzustellen, wie Rubio seinen gelähmten Körper über das so viel höher gelegene Fensterbrett zog. Es gelang mir nicht. Wir zuckten beide zusammen, als mein Handy sich meldete. Zweimal Vibrationsalarm. Dann Stille. Im selben Augenblick fiel mir auf, dass es auf dem Flur mit einem Mal schattig geworden war.
    »Oh nein!«, stieß Zoë

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