Schattenauge
hervor. Und dann sah ich es auch: Eine Silhouette auf dem Dach verdeckte die Sonne. Die Jongleurin! Sie spähte hinunter in den Schacht. Dann schweifte ihr Blick direkt zu uns herüber.
»Zurück!«, schrie ich und stieß Zoë in den Flur. Dann hechtete ich am Rollstuhl vorbei zum Fenster. Ich war einen Sekundenbruchteil zu langsam. Als ich es mit der Schulter zudrücken wollte, prallte schon jemand von außen gegen das vergitterte Glas. Ich wusste, wer es war, noch bevor ich Taubenblut roch. Der Schlag schleuderte mich in den Flur. Während ich noch im Schlittern reagierte und mit einer Drehung wieder auf die Beine kam, sah ich, dass die Jongleurin und Julian schon durchs Fenster gesprungen waren. Julians Augen schienen gelb zu glühen.
Ich versetzte Zoë einen Stoß, dann liefen wir schon zurück in die Wohnung.
Auch diesmal hatten wir mit dem Zuschlagen der Tür kein Glück – und ich verfluchte mich dafür, das Fenster offen gelassen zu haben. Denn auf dem Fensterbrett über dem Bett hockte Glatze. Wir saßen in der Falle.
Mochte Zoë davon halten, was sie wollte, ich riss sie zur Seite und stellte mich beim Schreibtisch schützend vor sie. Vielleicht schafft sie es zur Tür, wenn ich die drei ablenke?, fuhr es mir durch den Kopf. Und: Wo zum Teufel bleibt Irves?
»Was wollt ihr?«, schrie ich.
»Tribunal!«, knurrte Glatze und lächelte grimmig.
»Mörder!«, fauchte Julian uns an.
Wir? , dachte ich fassungslos.
»Wir haben ihn gefunden, er war schon tot, als wir kamen!«, rief ich.
Glatze sprang aufs Bett.
»Thomas!«, zischte die Jongleurin und er verharrte mitten im Sprung.
Sie ist also der Boss . Ich konnte Zoës schnellen Atem an meinem Nacken fühlen, Signale von Angst, die sich wie elektrisch aufgeladene Wellen an meiner Haut brachen.
»Warum sollen wir dir glauben?«, fragte die Jongleurin mit einer Stimme wie Eis. »Was ist mit den anderen? Maurice? Barb?«
Ich brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, was hier vor sich ging. In diesem Moment kehrte sich alles um und ich begriff, dass ich die ganze Zeit auf der falschen Spur gewesen war. Die Gemeinschaft war ebenso auf Mörderjagd wie wir. Nun, zumindest diese drei. Nur Eve fehlte.
»Wir haben niemanden umgebracht«, gab ich zurück. »Wir versuchen selbst rauszufinden, we r …«
»Ach, wirklich?«, sagte die Jongleurin. »Julian!«
Julian zerrte etwas aus seiner Jackentasche und warf es in die Mitte des Raumes. Ein ramponierter Turnschuh. » Die Hölle ist leer, und alle Teufel sind hier !«, zitierte er. Anklagend deutete er auf den Turnschuh und dann auf Zoë und fügte hinzu: »Maurice!«
»Das … das ist mein Schuh«, flüsterte Zoë fassungslos und trat neben mich. »Ich bin vor Maurice weggelaufen, aber ich habe ihn doch nich t … ic h …«
Dann wurde sie plötzlich so weiß im Gesicht, dass sie wie Irves’ Schwester wirkte. Zwei Paar Schuhe. Mir wurde auf der Stelle kalt, als ich begriff, was das bedeutete: Es war nicht das erste Mal, dass sie in den Schatten gegangen war! Wenn Gedanken auf einer Ebene schwingen konnten, sahen wir in diesem Moment genau dasselbe Bild. Zoë im Blackout, wie sie Maurice tötet. Und später auf Barb trifft. Zoë auf der Flucht. Zoë, wie sie über die Brücke läuft. Gizmo hatte Recht! Ich dachte, meine Beine würden jeden Augenblick nachgeben. So musste es sich anfühlen, wenn man von innen her erfror. Sie kann ein richtiger Killer sein , echoten Irves’ Worte in meinem Kopf. Das konnte nicht sein. Es durfte nicht wahr sein. E s …
»Claire?«, fragte Glatze alias Thomas die Jongleurin. Grimmig nickte sie.
Und während eine Welle von Adrenalin mich endgültig überschwemmte und ich unaufhaltsam in den Blackout driftete, dachte ich nur eines: Sie dürfen Zoë nicht töten .
»Zoë, lauf!« Selbst Gils Stimme klang wie ein Ruf aus weiter Ferne. Wie im Schock sah sie zu, wie der Mann namens Thomas vom Bett heruntersprang und mit krallenartig gekrümmten Fingern auf Gil zusprang.
Gil veränderte sich innerhalb eines Wimpernschlags. Sein Gesicht wurde ausdruckslos, dann fletschte er die Zähne und stürzte sich auf Claire. Seine Bewegungen wurden so schnell, dass Zoë ihnen kaum folgen konnte. Dann sah sie nur noch, wie Julian auf sie zuschnellte, aber der Schock war zu groß. Sie konnte sich nicht wehren. Wie betäubt stand sie da, meilenweit von ihrem Schatten entfernt. Ich war es nicht, ich kann es nicht sein, dachte sie. Doch gleichzeitig erinnerte sie sich
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