Schattenauge
an einen Kampf mit Maurice. Und das Gesicht von Barb, an die Maschen des Zaunes am Sportplatz gepresst. Eine Stunde. Mir fehlt eine Stunde!
Ein Schlag warf sie gegen die Wand. Und während sie den Aufprall spürte, war sie plötzlich ganz woanders.
Flashback.
Sie glitt in eine andere Zeit, an einen anderen Ort. Es war Nacht und sie kletterte auf der Feuerleiter unglaublich geschickt nach oben. Ohne Angst, aber mit klopfendem Herzen. Sie sah ihre Menschenhände, aber gleichzeitig auch etwas anderes: Fell? Die Fingerkuppen und Handflächen fühlten sich so an, als wären sie dick und gepolstert. Das Fell an ihrem Rücken war gesträubt. Und als sie einen Blick in die Tiefe warf (ohne Schwindel, ganz selbstverständlich), sah sie Augen am Fuß der Feuertreppe aufleuchten. Hunde? Aber warum hatten sie dann schlitzförmige Pupillen? Jedenfalls kletterten sie nicht. Ruhig zog sie sich weiter nach oben. Fünfter Stock, sechster. Ein Fenster – und das Aroma von feuchter, warmer Kinderhaut. Sie musste sich strecken und sich auf der Fensterbank abstützen, um ins Zimmer sehen zu können. Ein Teil ihres Bewusstseins wusste noch, dass es ihr eigenes Bett war, auf das sie nun blickte, und der kleine Junge darin ihr Bruder. In der schwarzen Bettwäsche wirkte er wie eine kleine, verletzliche Blüte. Er öffnete schlaftrunken die Augen, sah sie mit großem Erstaunen an und wimmerte im Halbschlaf. Und das Schlimme: In diesem Moment sah sie nicht Leon, sie sah ein kleines Tier, das leicht zu erbeuten wäre.
Der Flashback schleuderte sie in die Wirklichkeit zurück.
Er hatte eine Sekunde gedauert, denn sie rutschte immer noch an der Wand entlang zu Boden, benommen, gekrümmt, Julians Raubtiergeruch in der Nase. Ich war der Räuber, den Leon gesehen hat! Gil hat Recht , wir sind Bestien. Ich hätte meinem Bruder etwas antun können! Habe ich Maurice getötet? Und all die anderen?
Beinahe in Trance verfolgte sie, wie Gil neben Claire auf dem Boden aufkam und auch Thomas in Schach hielt. Zoë erkannte ihn nicht wieder. Es war, als hätte sich alles Düstere in einer Gestalt verdichtet, die nun wirbelnd und mit gefletschten Zähnen kämpfte. Als Julian Zoë zu packen versuchte, erwachten endlich auch ihre Instinkte. Sie kam auf die Beine, riss die Schublade aus dem Schreibtisch und schlug sie ihm mit aller Kraft gegen die Hüfte. Nägel schrammten über ihre Schulter und reflexartig biss sie nach Julians Handgelenk. Diesmal spürte sie, wie ihr die Wirklichkeit entglitt. Bitte lass mich keinen töten , dachte sie. Diesmal nicht. Dann kam der freie Fall in die Schwärze. Als sie nach dem Blackout wieder zu sich kam, stand sie keuchend und mit brennender Wange mitten im Raum, ein Büschel von Julians Haaren in der Hand, atemlos und mit pochenden Muskeln. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie Irves in den Raum stürzte. Er musste über das Fenster im Flur ins Haus gekommen sein. Die Tür zum Flur stand offen. Zoë hatte im selben Moment eine Vision von Leon, den das Gepolter aufschreckte. Leon, der die Treppen herunterkam und den Bestien direkt in die Fänge lief.
In einem Herzschlag verschmolzen hundert Gedanken zu einem flackernden Strom. Leon ist in Gefahr! Sie dürfen ihn nicht finden! Ich muss weg, weg von dem Kleinen! Sie wollen mich. Sie werden mir nach draußen folgen.
Julian krachte unter Irves’ Schlag mit dem Rücken gegen die Tür und warf sie wieder zu. Schon war Claire zur Stelle. Ihre Zähne schnappten knapp an Irves’ Nacken vorbei, doch er war schneller und tauchte unter ihrem Angriff weg.
Das Fenster! Zoë fuhr herum. Wie auf der Trainingsbahn schrumpfte alles auf diesen einen Weg zusammen, der vor ihr lag. Sie spürte kaum, wie ihr die Tränen über die Wangen rannen, als sie alle Kraft zusammennahm. Mit aller Gewalt verdrängte sie den Gedanken an Rubio und versuchte nur Irves vor sich zu sehen, wie er vom Balkon sprang und unverletzt aufkam. Ich bin ein Panthera, ich kann es! , redete sie sich ein. Alle Katzen sind schwindelfrei. Angst versengte jeden Millimeter ihres Körpers, aber sie nahm Anlauf, sprang auf das Bett und stieß sich ab. Ihre Sohle schrappte schmerzhaft über den Fensterrahmen. Dann war sie draußen. Der Wind riss an ihrem Haar. Und obwohl sie die Augen zukniff, erfasste sie Schwindel.
Kaltes Glühen in ihrer Brust. Lavastrudel im Zwerchfell. Das Gefühl, als müsste sie wie ein Komet in ihrer eigenen Angst verglühen. Fallen. Die absolute Gewissheit, gleich zu
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