Schattenauge
diese Mail, als ich anrufe. Jemand klingelt, Rubio unterbricht das Telefonat und steht auf. Nicht um das Haus zu verlassen. Im Gegenteil.
»Er hat jemanden erwartet«, sagte ich leise. »Und offenbar sollte es nicht lange dauern, sonst hätte er die halb fertige Mail gespeichert und die Programme geschlossen. Oder den Rechner ganz ausgemacht.«
Zoë deutete auf den Bildschirm. »Die Nachricht hier ist für dich.«
Ich überflog die Zeilen.
Das ist meine letzte Botschaft an dich, Gil. Meine Koffer stehen gepackt im Wohnzimmer. Ich verlasse noch heute die Stadt. Zugegeben etwas überstürzt, aber es ist nicht mehr sicher hier – auch nicht für mich. Du wolltest immer wissen, was das Geheimnis unserer Existenz ist. Du leidest daran, doch das Einzige, was es zu leiden gibt, ist, dass wir Wesen einer sterbenden Bestimmung sind. Wir waren stark und mächtig! Wir haben Götter getragen. Wir waren selbst Götter. Wir waren Wächter der Geheimnisse unserer Existenz und die Wächter derer, die ihren Schatten wieder gehen ließen. Die Menschen brauchen unseren Schutz. Diejenigen, die wir lieben – und diejenigen, die zu schützen wir uns entscheiden. Nur dafür haben wir unsere Fähigkeiten. Doch die Zeit der Helden und Götter ist vorbei. Die Aasfresser warten nur darauf, die elenden Reste einstiger Größe zu verschlingen. Und wir haben es nicht besser verdient, zu schlecht haben wir unseren Auftrag erfüllt. Auch du gehörst zur sterbenden Generation, Gil, der Zauderer, Gil, der Heimatlose. Aber in dir ist wenigstens noch ein Funken des alten Lichtes. Du hast ein Gewissen, du willst erkennen und verstehen. Du haderst mit dir. Das ist gut. Denn entscheiden kannst du erst, wenn du den Mut hast zu sehen: Töte den Löwen, Gil. Oder lasse den Schatten in dein Herz. Es ist dasselbe, ausgedrückt nur durch verschiedene Bilder. Dann kannst du werden, was du willst, die Welt und alle Entscheidungen stehen dir offen. Werd e …
Hier hatte er aufgehört zu schreiben. Ich widerstand der Versuchung, dem Monitor einen Tritt zu versetzen. Leon schien den Stimmungsumschwung zu spüren. Er wurde unruhig und zupfte an Zoës Jacke. »Gehen wir wieder runter? Mir ist langweilig«, beschwerte er sich.
Zoë griff ungeduldig nach einem Kopfhörer, der auf dem Tisch lag, stöpselte ihn mit fliegenden Händen in ihr Handy ein und rief irgendein Spiel auf. Leons Gesicht hellte sich sofort auf. »Ich will das Fußballspiel!«, rief er.
»Ja, hier ist es«, sagte Zoë ruhig. »Spiel eine Runde, du weißt ja, wie es geht.«
Der Kleine kletterte auf einen Korbstuhl, der in der Ecke der Kammer stand, und war wenige Sekunden später in seiner eigenen Welt versunken. Selbst durch die Kopfhörer konnte ich das Gedudel der Spielmusik hören.
Zoë wandte sich wieder dem Monitor zu. »Sieh nach, ob es weitere Mails gibt.«
Viel hatte Rubio nicht geschrieben. Einige Mails an mich, ein paar Nachrichten an ehemalige Kollegen und die Telefongesellschaft. Eine Mail an eine Maklerfirma, die seine Wohnung verkaufen sollte. Ich überflog sie nur kurz. »Ihm gehört nicht nur die Wohnung, sondern das ganze Haus«, murmelte ich. »Das erklärt, warum auch die anderen Wohnungen leer stehen.«
Ich klickte die Mails weg und durchsuchte die Festplatte nach Bildern. Aber Rubio gehörte zur alten Garde. KeineDigitalfotos. Alles, was ich fand, waren drei Worddateien. »Klassifizierung«, »Geschichte« und »Thesen«. Klang sehr rubianisch. Kurzerhand leitete ich sie einfach an meine Mailadresse weiter – und dazu alles andere, was ich auf der Festplatte fand.
»Er muss also die Fotos mitgenommen haben«, stellte Zoë fest.
»Mitgenommen? Ich glaube nicht, dass er freiwillig gegangen ist. Keiner geht und lässt den Computer an. Ich sehe mich noch einmal in der Wohnung um.«
»Ich komme mit!« Sie beugte sich zu ihrem Bruder und hob einen Kopfhörer an. Ihr Lächeln war warm und berührte mich. Ich schickte in Gedanken Gizmo und Irves mit ihrem hirnrissigen Verdacht gegen Zoë zum Teufel.
»Du bleibst hier, Löwe, klar?«, befahl sie. »Wir schauen unten in der Wohnung kurz etwas nach und kommen gleich wieder. Rühr dich nicht von der Stelle.«
Die Zärtlichkeit in ihrer Stimme brachte etwas in mir zum Klingen. Ich glaube, es war genau dieser Augenblick, in dem ich mir endgültig eingestand, was ich für sie empfand. Man kann jemanden für seine Güte lieben oder für seinen Mut. Ich liebte Zoë für ihren Trotz, sogar für ihren Zorn, vor allem aber für
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