Schattenauge
daran zu denken, dass Rubio dort unten lag. Dennoch schnürte es mir wieder die Kehle zu, als ich den Flur sah. Und dann fiel mir siedend heiß ein, dass die Polizei garantiert die Wohnung aufbrechen würde. Schließlich hatten genug Leute beobachtet, dass wir aus dem Fenster gesprungen waren. Ich fluchte und stürzte ins Wohnzimmer, schnappte mir Zoës Schuh, packte ein zerrissenes Hemd (von Julian) und wischte damit hastig über den Griff der zerbrochenen Schublade und die Griffe des Fensters. Nicht dass es in diesem Raum noch etwas gebracht hätte, Spuren zu beseitigen.
Leon blickte erschrocken auf, als ich in den kleinen Raum stürzte. Er quiekte vor Schreck, doch bevor er sich wehren konnte, hatte ich ihn schon gepackt und raste mit ihm die Treppen hinunter. Der Kopfhörer war ihm halb von den Ohren gerutscht und die nervtötende Diddelmusik dröhnte in meinem Schädel. In dem Moment, als ich mit ihm zur Tür hinaus war und zum Auto sprintete, hatte Leon sich vom Schreck erholt und begann aus vollem Hals zu brüllen und in meinen Armen zu zappeln und zu treten.
»Beeil dich!«, rief Irves mir schon entgegen.
»Leon!«, rief Zoë und streckte die Arme nach ihm aus. Der Kleine hörte schlagartig auf zu schreien und flüchtete sich zu ihr. Gizmo gab Gas.
Leon brach in Tränen aus und Zoë hielt ihn fest und wiegte ihn. Ich warf den Turnschuh auf den Boden und kauerte mich in die Ecke des Wagens. Ich betrachtete Zoë, während sie ihren Bruder tröstete. Erst jetzt fiel mir auf, wie blass sie war. Aber sie schien keine Schmerzen zu haben. »Alles gut, Löwe«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Und ich dachte nur, wie verrückt es war, dass sie ausgerechnet den Kleinsten und Verletzlichsten in dieser Runde »Löwe« nannte. Passt der Schuh, Aschenputtel? , dachte ich niedergeschlagen. Bist du ein Killer?
Ich hätte heulen können. Doch während ich sie anstarrte und mir vorzustellen versuchte, wie sie Maurice anfiel, lernte ich etwas: Mich selbst betrachtete ich als Mörder und Bestie. Ich war überzeugt, keine Zuneigung zu verdienen und keine Gnade. Doch ich konnte Zoë nicht verachten. Ich konnte sie nicht einmal als Bestie sehen. Ich suchte Entschuldigungen für sie, die ich mir selbst nie zugestanden hätte. Ich wollte ihr sagen, dass ich sie immer noch liebte, dass ich verstand, wie sie sich fühlen musste, und dass sie nichts dafür konnte, weil ihr Schatten der Schuldige war. Doch alles, was mir einfiel, war der Satz: »Alles in Ordnung?«
Sie nickte, aber sie vermied es, mich anzusehen. Irgendetwas war anders an ihr – eine Frequenz, ein tonloser Klang, sie hatte etwas Unscharfes an sich, als wäre sie ein ganzes Stück von mir abgerückt und ich würde sie aus weiter Ferne betrachten. Vielleicht fühlt sie sich schuldig , dachte ich. Ich wusste nur zu gut, wie ich mich gefühlt hatte und immer noch fühlte.
Irves’ Augen schienen im Halbdunkel des Wageninneren zu gleißen wie zwei weiße Sonnen. »Was ist da drin passiert?«, stieß er hervor. »Rubio ist tot! Ich habe gesehen, wie Claire aufs Dach geklettert ist, und bin ihr hinterher. Und dann sah ich ihn unten liegen.«
»Die drei waren es nicht«, antwortete ich. Und als er mich nur anstarrte, fügte ich genervt hinzu: »Und wir auch nicht, verdammt! Jemand war gestern Nacht bei ihm!«
Irves überlegte kurz, dann schien er beschlossen zu haben, dass er mir glaubte. Nervös fuhr er sich durchs Haar und starrte aus dem Fenster. »Das hätte eben auch verdammt schiefgehen können!«, zischte er. »Warum hast du so lange gebraucht, Giz?«
»Hey, ich bin seit zwei Stunden unterwegs«, knurrte Gizmo. »Lieferung in der Weststadt. Es gab einen Stau. Ich konnte ja nicht ahnen, dass ihr ohne mich loslegt.«
»Ich will nach Hause!«, kreischte Leon so schrill, dass wir alle drei zusammenzuckten.
»Fahr uns heim«, bat Zoë leise.
»Vergiss es«, erwiderte Gizmo unwillig.
»Er hat Recht«, sagte ich. »Sie sind hinter dir her und sie wissen, wo du wohnst. Wir fahren zu Gizmo.«
»Bleibt uns wohl kaum etwas anderes übrig«, sagte Gizmo. »Jeder Idiot, der euch gesehen hat, hat sich mein Kennzeichen notiert. Da ist es keine schlechte Idee, das Auto eine Weile in der Garage zu versenken.«
Er legte sich mit mindestens achtzig Sachen in eine scharfe Kurve und gab dann richtig Gas. Wenn jemand wütend Auto fahren konnte, dann Gizmo.
Wir sprachen kein Wort, nur Leon wiederholte wie eine wild gewordene Gebetsmühle immer wieder, dass er nach Hause
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