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Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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sterben.
    Und dann geschah etwas völlig anderes: Die Zeit hielt an und Zoë schwebte. Die Grenze war keine Grenze mehr, eher ein Nebel, in den sie nun eintauchte. Er verdichtete sich und wirbelte – und formte sich zu einem Körper. Graue Augen, ein helles, wie in Milch getauchtes Maul, eine schwarze Tränenzeichnung auf dem grauen Katzengesicht. Seltsamerweise war es nicht erschreckend, als die Katze auf sie zusprang – elegant, in Zeitlupe, als wollte sie Zoë Gelegenheit geben, sie ausgiebig zu bewundern. Tränen sammelten sich in Zoës Mundwinkel, als sie lächelte. Und während sie in den anderen Körper, diesen Katzenkörper, hineinglitt, entblätterten sich wie in einem gleißenden Strom alle Erinnerungen, fehlende Bilder aus dem farblosen Land hinter der Grenze: Maurice, der sie mitten in der Nacht verfolgte, sein Atem, den sie schon spürte. Und dann die Katze, diese große graue Raubkatze, die ihr zu Hilfe kam. Nein, Zoë hatte sie sogar selbst gerufen, daran erinnerte sie sich nun ganz genau. Sie war ein Teil von ihr – ihr Schatten! Zoë schlüpfte in die fremde und plötzlich so vertraute Gestalt und kämpfte mit allen Sinnen und Fähigkeiten der Raubkatze. Auch Maurice war nicht mehr der Mann mit der Halbglatze. Sie sah einen riesigen Tiger mit eisblauen Augen. Gewaltige Pranken, die nach ihr schlugen und denen sie nur knapp entkam. Auf einmal waren viele schnappende Mäuler um sie herum, Hundekörper, zwei – oder vier ? –, die aus dem Nichts aufgetaucht waren und Maurice bedrängten. Zoë war davongelaufen, ohne sich umzublicken, das Fauchen von Maurice in den Ohren. Sie war bis zu ihrem Haus gelaufen und auf der Feuerleiter nach oben geklettert. Aufgepeitscht vom Adrenalin hatte sie ihren Bruder betrachtet. Es war nur ein kurzer Moment des völligen Instinkts – doch dann fühlte sie ein reflexartiges Zurückschrecken, wie einen Schauer, der sie in ihrer Katzengestalt zur Besinnung brachte. Das ist keine Beute! Weiterklettern.
    Selbst jetzt, in diesem seltsamen Traum, war sie unendlich erleichtert: Ich hätte ihm niemals etwas angetan!
    Eine weitere Erinnerung blühte auf: die drei Gestalten, die sie vom Alten Schlachthof fortjagten – bis es plötzlich nur noch zwei waren. Autoscheinwerfer und ein Gesicht an einem Fenster. Dann ihre Flucht durch die Hinterhöfe und Gassen wie in Zeitraffer. Der Augenblick auf der Brücke, als der Wrestler sie fast erreicht hatte und dann zurückfiel, das Knurren in ihrem Nacken, nach dem sie sich nicht umsah. Ein seltsam keuchendes, schrilles Geräusch, fast wie ein Lachen. Sie kletterte auf die Brückenkonstruktion und sah unten nur aus dem Augenwinkel den Wrestler fallen, hörte das Aufschlagen auf dem Wasser und sah die Blutwolke, die sich im Strudel des untergehenden Körpers im Wasser ausbreitete.
    Dann spürte sie, dass sie selbst ebenfalls fiel, und öffnete die Augen. Die Zeit begann wieder zu rasen, der Boden flog heran. Reflexartig streckte sie die Arme und Beine aus. Ein Schlag, ein Abfedern. Dann taumelte sie zur Seite, verwundert und immer noch umhüllt von dieser grauen Schattengestalt. Neben ihr kam ein anderes Raubtier auf dem Boden auf. Schwarzes Fell, in dem sich dennoch eine Fleckenzeichnung zeigte. Ein schwarzer Leopard – ein Panthe r –, der zum Fenster hinauffauchte. Fingerlange Fangzähne glänzten auf. Zoë blinzelte. Alles war wie verzerrt. Sie spürte kaum, wie sie auf die Knie fiel. Ihr wurde übel, alles drehte sich und sie hatte die bizarre Vorstellung, dass das Blut plötzlich in verkehrter Richtung durch ihre Adern floss. Dann nahm sie alles nur noch bruchstückhaft wahr: Fauchen und menschliche Stimmen. An der U-Bahn-Station flüchteten zwei Teenager kreischend in den Schacht. Dann waren schon die anderen Panthera da, sprangen einfach auf den Platz. Krallen glänzten in der Sonne auf. Direkt vor Zoë… ein… Schneeleopard? Sein weißgraues Fell mit der nur wenig dunkleren Zeichnung aus getupften Ringen gleißte in der Sonne. Der Panther wirkte neben ihm wie ein Negativ. Gemeinsam schnellten sie los – gegen drei andere Katzen. Sandgelb vermischte sich mit Schwarz, Orange mit Weißgrau, mitten auf dem gepflasterten Platz. Als Zoë blinzelte, immer noch gefangen in diesem seltsamen Zustand, flackerten die Bilder der Katzen und wurden zu Doppelbildern. Sie sah das Bild, das die anderen Menschen wahrnehmen: Irves und Gil, die gegen die drei anderen kämpften. Aber gleichzeitig sah sie mit Panthera-Augen auch ihre

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