Schattenauge
Barb!
»Es handelt sich um die dreiundfünfzigjährige Obdachlose Barbara Ruth Villier«, verlas der Sprecher mit sachlicher Stimme. »Die ehemalige Börsenmaklerin lebte seit mehr als zwanzig Jahren auf der Straß e …«
Mir fiel fast das Handy aus der Hand, als ich es aus der Tasche riss. Dann fiel mir ein, dass es hier unten keinen Empfang gab. Was ohnehin keine Rolle mehr spielte, weil der Akku, kaum dass ich Gizmos Nummer wählte, mit einem letzten wehleidigen Piepsen endgültig den Geist aufgab.
Durga
Paula sah heute atemberaubend aus: Die roten Locken zu einer noch wilderen Mähne gekämmt, dazu ein schmaler, kurzer Rock und eine gelb-rote Jacke – und das alles zu blauen Leggings und hohen Schuhen, die ihre durchtrainierten Beine gut zur Geltung brachten.
»Ist dein großer Unbekannter Stummfilmfan?«, fragte sie beim Blick auf Zoës schlichte weiße Jeans und das schwarze Oberteil.
»Nein, die Trennung von David war so ein Schock, dass ich vor lauter Heulen farbenblind geworden bin«, konterte Zoë trocken.
Paula versank auf der Stelle in betretenes Schweigen, und Zoë fragte sich wieder einmal, ob ihr Humor tatsächlich so schwer zu verstehen war. Nervös klimperte sie mit ihrem Kleingeld in der Jackentasche, während sie das Programmkino links liegen ließen und zur Buddha Lounge weitergingen. Das Viertel hier war belebt, Innenstadt, der Verkehr rauschte um die Verkehrsinseln.
»Du kennst ihn wirklich überhaupt nicht?«, fragte Paula nach einer Weile.
»Nur einmal gesehen«, erwiderte Zoë.
Paula schüttelte den Kopf. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass du nachts heimlich abhaust.« Aber es klang eher bewundernd als fassungslos.
Zoë hätte ihr gerne gesagt, dass sie sie manchmal um die Freiheit beneidete, solche Aktionen nicht nötig zu haben. Paulas Eltern waren von ihren älteren Söhnen Schlimmeres gewohnt und nahmen es locker, wenn die Jüngste nur tanzen gehen wollte. Selbst wenn es Sonntagnacht war. Und um Punkt zehn nach elf würde Paulas ältester Bruder mit dem Auto beim Treffpunkt am Kino vorfahren und sie abholen. Zur Abwechslung war das mal ein wirklich rundum behüteter Ausflug. Zwar hatte Zoë nur eine Stunde. Aber das war besser als nichts.
Der Eingang zur Buddha Lounge war fast unsichtbar – ein unauffälliges, von Abgasruß bedecktes Leuchtschild, eine Treppe, die in einen Keller führte. Leute standen oder saßen auf den Stufen und rauchten. Viele schon weit über zwanzig, einige sogar jenseits der dreißig, die wenigsten von ihnen waren besonders aufgedonnert. Einige trugen ausgeleierte schwarze Sweatshirts und sahen aus, als würden sie nur von Chips und Fertigpizza leben. Aber die Musik, die Zoë schon am Eingang erahnen konnte, hörte sich gut an – fast altmodisch klingende E-Geigen und Drums.
Einige Minuten blieben sie vor dem Eingang stehen und warteten. Dann, als sie es kaum noch aushielt, sah Zoë ungeduldig auf die silbergelbe Uhr an ihrem Handgelenk. Sie musste sie seitlich halten, um die Zeiger unter dem zerkratzten Uhrglas zu erkennen. Schon fast Viertel nach zehn! Und immer noch kein Irves weit und breit. Versetzt zu werden war heute das Letzte, was sie brauchte.
»Komm«, sagte sie und fasste Paula am Handgelenk.
»Hey, willst du nicht warten?«
Zoë schüttelte den Kopf. »Wer zu spät kommt, darf mich suchen«, sagte sie verärgert. »Wir gehen rein.«
Der Eintritt war ein teurer Spaß, aber jetzt spielte das auch keine Rolle mehr. Immerhin war die Musik nicht schlecht. Sie erinnerte an eine Mischung aus Trance und Bombay Dub Orchestra, ein treibender Beat, der ihr auch sofort in die Beine ging.
Die Lounge war ein labyrinthisch verwinkelter Gewölbekeller. Die Wände waren schwarz gestrichen, in den Nischen waren goldene Buddhas und andere Gottheiten platziert und farbig angeleuchtet.
»Wie alt ist dein Irves eigentlich?«, fragte Paula misstrauisch. »Doch wohl hoffentlich kein vierzigjähriger Esoteriker, oder?«
Zoë musste grinsen. »Achtzehn … schätze ich jedenfalls. Und er ist nicht ›mein Irves‹.«
»Wie sieht er aus?«
»Gut genug.«
Paula schnaubte und rollte die Augen, doch dann sah sie sich unternehmungslustig um. Zwischen den vielen schwarz gekleideten Leuten hier unten fiel sie auf wie ein Paradiesvogel. Doch sie kümmerte sich nicht um die neugierigen oder abschätzenden Blicke.
»Ich hol uns was zu trinken!«, rief sie Zoë zu. »Eine Cola?«
Zoë nickte. Sie sah sich ein letztes Mal nach Irves um, dann
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