Schattenauge
Mutter das Gewicht ihrer Sorgen aushielt. Zoë legte sich die Worte sorgfältig zurecht. Sie wollte gerade beginnen, als ihre Mutter auf die Uhr sah.
»Oh, wieder so spät!«, rief sie und griff zur Fernbedienung. »Bleiben noch die Nachrichten, um wenigstens ein bisschen was vom Leben mitzukriegen. Und dann ein paar Stunden Schlaf, mir fallen ja jetzt schon die Augen zu. Gegen neun muss ich wieder los. Ich kann dir sagen, ich mache drei Kreuze, wenn ich mal wieder eine Nacht durchschlafen kann. Bist du so nett und holst mir noch einen Orangensaft aus der Küche?«
Zoë blieb sitzen, während ihre Mutter den Fernseher laut stellte.
»Mama, ich …«
»Oh, und wenn du nachher rausgehst, könntest du den Müll mit runternehmen.«
Ihre Mutter starrte auf den Fernseher, vollkommen auf das Geschehen konzentriert.
»Hörst du mir eigentlich nie zu?«, platzte Zoë heraus. »Immer wenn ich etwas sagen will, ist etwas anderes wichtiger.«
Fast hoffte sie, dass ihre Mutter wütend reagieren würde, dass sie sich anschreien und richtig streiten würden. Aber ihre Mutter sah nur überrumpelt und enttäuscht aus.
»Sei nicht ungerecht, Liebes. Ich höre den ganzen Tag zu«, sagte sie sanft. »Jeder Patient lädt seinen Kummer bei mir ab, vielleicht sind mir deshalb die Nachtschichten lieber. Im Moment habe ich das Gefühl, mein Kopf platzt. Und heute Nacht mussten wir einen Patienten dreimal umlagern und sein Bett neu beziehen. Der wog bestimmt hundert Kilo! Mein Rücken ist so verspannt, dass ich mich kaum von der Stelle rühren kann.«
Arme Märtyrerin , dachte Zoë erbost. Verärgert schoss sie hoch und ging in die Küche. Heute roch der Kühlschrank nur nach Plastik und Kälte. Ein Stück Normalität. Vielleicht – hoffentlich! – war es vorbei.
Im Wohnzimmer stellte ihre Mutter den Ton des Fernsehers noch lauter, doch Zoë hörte nicht zu. Sie stützte sich am Kühlschrank auf, schloss die Augen und ließ den Kopf hängen, bis ihre Nackenmuskeln sich erst spannten und dann langsam nachgaben. Die Dehnung tat gut.
In Gedanken zählte sie die Stunden. Noch elf Stunden und vierzehn Minuten bis zu dem Treffen in der Buddha Lounge . Elf Stunden bis zur Musik, zum Eintauchen in die weiße Zeit. Sie stutzte, als sie bemerkte, dass sie zum ersten Mal seit drei Wochen wieder in die Zukunft rechnete, statt nur die vergangene Zeit abzuzählen. Vielleicht war sie wirklich über den Berg. Im Augenblick machte ihr nicht einmal der Gedanke an David etwas aus. Und sie sollte Paula endlich anrufen.
»Zoë!«
Sie schreckte hoch und fuhr herum. Ihre Mutter stand totenblass in der Tür.
»Hast du das eben gehört?«, fragte sie atemlos. »In den Nachrichten. Jemand ist ermordet worden – auf eurem Sportplatz!«
Es war wie verhext. Ich erreichte Gizmo nicht und auch bei Irves war nur die Mailbox dran. Gut, Irves war tagsüber beinahe nie wach. Er hasste die Sonne, was ich bei seiner lichtempfindlichen Albinohaut absolut verstehen konnte. Aber Gizmo war um diese Zeit eigentlich immer ansprechbar. Entnervt sprach ich noch ein viertes Mal auf seine Mailbox, dann tippte ich die Nachricht zur Sicherheit auch noch einmal als SMS ein: Todesfall in Barbs Revier. Brauche Infos. Alle Nachrichten aufnehmen!!!
Dann war die Karte fast leer und auch der Akku – offenbar nicht mehr der jüngste – war kurz vor dem Aufgeben, das Handy piepste schon. Sicherheitshalber schaltete ich es aus, um noch etwas Saft zu sparen, und warf wieder einen Blick zum Haus hinüber.
Bisher war mir nicht bewusst gewesen, wie nervös ich gewesen war. Klar wurde es mir in dem Moment, als ich Zoë völlig unversehrt vor die Tür treten und mit einem vollen Müllbeutel zu den Tonnen gehen sah. Und mir sofort mindestens ein Zentner Gewicht von der Seele rutschte.
Zoë ließ den Deckel der Mülltonne zufallen und trat wieder zur Tür. Hier holte sie hastig das Handy aus der Hosentasche.
»Na endlich!«, rief Paula am anderen Ende der Leitung. »Wenn du dich heute nicht gemeldet hättest, hätte ich eine Vermisstenanzeige aufgegeben.«
Irgendwie tat es doch gut, dass Paula sich so viele Sorgen um sie machte.
»Tut mir leid«, sagte Zoë zerknirscht. »War etwas … hektisch die letzten Tage.«
»Das kann man wohl sagen«, erwiderte Paula ironisch. »Und? Hast du dich von deinem Anfall erholt? Was war nur los mit dir? Du bist ja vollkommen ausgerastet! Frau Thalis ist wirklich sauer auf dich.«
»Ich weiß. War alles … nicht so toll.« Und bevor
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