Schattenauge
andere s …
»Die Musik hier ist wirklich nicht schlecht«, sagte Zoë ausweichend.
»Es gibt ein Sprichwort«, meinte Paula. »›Wer auf einem Tiger reitet, kann nicht mehr absteigen.‹ Stammt, glaube ich, aus Thailand. Woher kommst du eigentlich? Japan? Korea?«
»Kaukasus«, erwiderte er ohne zu zögern. »Meine Eltern waren Kirgisen.«
»Waren? Sind sie gestorben?«
Wenn er von Paulas Direktheit befremdet war, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.
»Keine Ahnung«, meinte er. »Meine Adoptiveltern leben noch. Allerdings nicht hier, sondern in London.«
Jetzt bekam sogar Paula große Augen. »Dann bist du in England aufgewachsen?«
»Unter anderem«, sagte er beinahe gelangweilt. »Diplomatenlebenslauf – wir haben fast überall gelebt. Ein paar Jahre in Stockholm. Dann in Kopenhagen – und irgendwann hat es die beiden nach London verschlagen. Und mich hierher.«
»Dann lebst du allein hier?«, schaltete sich Zoë in das Gespräch ein. »Studierst du?«
»Nein.« Er ließ seinen Blick über Paulas Haar und ihre Paradiesvogel-Farben schweifen. »Und wer hat dich adoptiert?«
»Jedenfalls keine Farbenblinden, wie du siehst«, konterte Paula und schenkte Irves ein wirklich hübsches, müde überlegenes Lächeln.
Ein schrilles Violinensolo lenkte Zoë für einen Moment vom Gespräch ab. Sie war froh, als das Schlagzeug den Rhythmus wieder übernahm. Beinahe erleichtert nahm sie ihr Glas und nippte an der Cola. Das heißt, sie versuchte daran zu nippen. Aber die Geruchsexplosion in ihrer Nase hatte etwas von einem Musikstück, bei dem jedes Instrument falsch gestimmt und außerdem zu laut war. Sie verzog das Gesicht und stellte das Glas mit so viel Schwung auf die Theke zurück, dass die Cola über den Rand schwappte.
»Schmeckt nicht mehr, was?«, bemerkte Irves. Sie spürte seine Unruhe, die der ihren glich. Er beobachtete sie genau. Zu genau.
»Geht so«, erwiderte sie mit belegter Stimme. Sie zwinkerte, weil ihre Augen brannten, und lehnte sich an die Theke. Verdammt, wann hörte das endlich auf? Ihr war leicht schwindelig. Im Takt der Musik trommelte sie mit den Fingern auf der Theke. Das Blut pochte in ihren Schläfen, in ihrem Bauch, genau im Takt des Schlagzeug s …
»So, dann lebst du also allein hier«, setzte Paula ihr Verhör fort. »Was machst du, wenn du nicht studierst? Arbeiten oder vom Geld deiner Eltern leben?«
Zoë stieß sich von der Theke ab.
»Hey, wo willst du hin?«, fragte Paula.
»Auf… die Tanzfläche.« Sie kam nicht weit. Nach zwei Schritten holte Paula sie ein und legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Bist du sauer?«, fragte sie besorgt. »Ich versuche doch nur, etwas mehr über ihn herauszubekommen.«
Zoë schüttelte den Kopf. »Alles in Ordnung. Aber wir haben nur noch eine halbe Stunde und die will ich nicht verquatschen. Lasst euch nicht stören.«
Paula beugte sich noch weiter zu ihr. »Er ist ganz schön arrogant«, raunte sie ihr ins Ohr. »Aber er hat was! Willst du wirklich gar nichts von ihm?«
Keine Ahnung, die Münze ist noch nicht gefallen.
»Im Moment will ich nur tanzen«, sagte sie mit einem Lächeln, von dem sie hoffte, dass es Paula dazu bringen würde, zur Theke zurückzugehen.
Barb hatte mehrere Verstecke für die wenigen Dinge gehabt, die sie besaß. Die Flaschen standen hinter einem Container. Eine halb volle Flasche war mit einem Pfropfen aus zerknülltem Zeitungspapier verschlossen. Mich ekelte allein schon die Vorstellung, Alkohol zu schmecken. Gerade wollte ich wieder auf die Straße treten, als ich Schritte hörte. Schnelle Schritte auf harten Sohlen. Erst wollte ich sie ignorieren, aber dann erinnerte ich mich daran, dass der ganze Stadtteil in Alarmbereitschaft war. Jeder, der hier nachts herumspazierte, würde das Handy im Anschlag haben und den Daumen auf der Kurzwahltaste mit der Nummer der Polizei. Jemand wie ich passte bestimmt gut ins Raster. Im Kopf sah ich schon den Film ablaufen: Fußgänger entdeckt verdächtige Gestalt, die sich um halb elf Uhr nachts in der Nähe des Tatorts herumdrückt. Serienkiller auf Streifzug? Anruf bei der Polizei, die zufällig um die Ecke parkt. Kurze Hetzjagd, Pech für humpelnde Gestalt. Festnahme und die Frage nach den Papieren.
Das genügte.
Lautlos schlüpfte ich hinter den Container und lauschte mit klopfendem Herzen. Er – oder sie – hatte es eilig. Doch vor dem Container wurden die Schritte langsamer, verharrten zwei, drei Sekunden, um dann umso schneller wieder
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