Schattenauge
sie sich beherrschen konnte, rutschte ihr schon die Frage heraus: »Ist Ellen in Ordnung?«
»Ein bisschen Nasenbluten und ein blauer Fleck im Gesicht. Ansonsten hat sie es überlebt. Aber sie war stinksauer. Und kaum war sie wieder auf den Beinen, haben sie und David sich gestritten. Ich glaube, da hast du eine Krise ausgelöst. Die kommt sicher nicht wieder mit zu den Spielen.«
Zoë schluckte. Das war fast schon mehr, als sie an Infos verkraften konnte.
»Hast du heute die Nachrichten gesehen?«, fragte sie.
»Nein, warum?«
»Bei uns in der Nähe wurde jemand ermordet. Auf dem Sportplatz.«
»Was?«, rief Paula so laut, dass Zoë den Hörer vom Ohr weghalten musste. »Wann war das? Was ist da passiert?«
Zoë leckte sich über die Lippen und begann zu erzählen. Ihr Nacken kribbelte, als würde jemand sie beobachten. In der Erwartung, den schmierigen Typen im Trainingsanzug zu sehen, drehte sie sich abrupt um und ließ ihren Blick alarmiert über die Straße schweifen. Aber da war nichts Ungewöhnliches. Einige Leute standen am Kiosk, schüttelten die Regenschirme aus und diskutierten, ein paar Kinder ließen immer wieder einen Fußball durch die Pfützen hüpfen und dann gegen einen Baustellenzaun krachen. Und an der Bushaltestelle auf der anderen Straßenseite saß ein schlanker, junger Typ in einer abgewetzten, nassen Jeansjacke, die überhaupt nicht zu seinen viel zu weiten und langen Hosen passte. Er beugte sich so tief über sein Handy, dass Zoë sein Gesicht nicht erkennen konnte. Nur das schwarze, lockige Haar, das ebenfalls nass vom Regen war, fiel ihr auf.
Während sie weitersprach, wandte sie sich von ihm ab und senkte die Stimme. Völlig idiotisch, dachte sie im selben Augenblick. Ist das schon Verfolgungswahn?
»Na ja, und jetzt ist meine Mutter völlig außer sich«, beendete sie leise ihre Ansprache. »Sie will sogar ihre Nachtschicht absagen, weil sie den Gedanken nicht aushält, dass ich allein zu Hause bin, während der Killer noch im Viertel herumschleicht. Wahrscheinlich bildet sie sich gerade ein, dass er es ausgerechnet auf mich abgesehen hat und so lange an den Haustüren klingeln wird, bis er mich gefunden hat.«
Sie hatte versucht, gleichgültig zu klingen, aber jetzt wurde ihr wieder ganz flau bei der Vorstellung, dass sie heute Nacht draußen gewesen war. Vielleicht zur selben Zeit, als nur zehn Straßen weite r …
»Warte mal, ich mach mal den Fernseher lauter«, sagte Paula. »Hier kommt gerade der Bericht.«
Ohne dass Zoë es wollte, schweifte ihr Blick wieder zu dem Jungen. Sie hatte den Eindruck, dass er sein Gesicht absichtlich vor ihr verbarg. Es beunruhigte sie, ohne dass sie hätte sagen können, warum. Misstrauisch musterte sie ihn. Er war drahtig, nicht besonders groß. An seinen Händen konnte sie sehen, dass seine Haut einen dunklen, fast bronzebraunen Teint hatte. War er einer von den Arabern oder Indern, die hier im Viertel lebten? Vielleicht ist er ja der gesuchte Mörder? Es könnte jeder sein.
»Oh Gott, das ist ja ekelhaft«, hörte sie Paulas entsetzte Stimme. »Oh je, ich werde nie wieder auf der Bahn laufen können! Klar schläfst du heute bei mir!«
Zoë atmete erleichtert auf. »Danke«, sagte sie aus vollem Herzen. »Ich muss einfach raus hier, ich halte es gerade nicht mehr aus.«
»Soll ich meiner Mutter sagen, dass sie deine anrufen soll?«, wollte Paula wissen.
»Nein, nicht nötig. Das erkläre ich ihr schon selbst. Abe r … da ist noch was.«
Wieder blickte sie über die Schulter. Jetzt war die Bank an der Bushaltestelle leer. Der Araber musste wohl in die Straße dahinter eingebogen sein.
»Ich brauche für heute Abend ein Alibi«, raunte sie Paula zu. »Nur für eine Stunde. Oder zwei. Ic h … will in einen Club gehen.«
Eine Weile lang herrschte fassungslose Stille. Sie konnte fast hören, wie der Groschen am anderen Ende der Leitung fiel.
»Moment mal!«, sagte Paula dann. »Nur für die Akten: Auf unserem Sportplatz wird jemand umgebracht, es gibt Stress mit deiner Mutter – und du willst in aller Ruhe tanzen gehen? Jetzt erzähl mir nur noch, dass du ein Date hast!«
Zoë zögerte. Aber dann sagte sie sich, dass das auch zur Normalität gehörte. Paula war ihre Freundin. Es wurde Zeit, dass sie aufhörte, sich so zu benehmen, als würde sie das Leben eines Geheimagenten führen. Was war schon dabei, ein Geheimnis mit einer Freundin zu teilen, auch wenn es nicht Ellen war?
»Kein Date, sondern ein Treffen«, sagte
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