Schattenauge
Amazonas-Volk, glauben an Jaguare, die wie Geister in den Körpern der Menschen leben können. Diese sehen für sie und warnen sie vor Eindringlingen.
Ich sage: Das waren und sind alles wir, Rubio. Der Schlüssel ist unsere Bestimmung. Wir sind tatsächlich Beschützer. Meine Großmutter würde über die Huaroni sagen, dass die Geister-Jaguare gute Wesen sind. Hüter der Menschen. Aber was ist mit Herkules? Er war auch einer von uns, nicht wahr? Aber er tötete den Nemeischen Löwen (auch einen Panthera?). Warum? Um die Gemeinschaft vor dem Menschenfresser zu schützen? Heißt das, der Kodex wurde schon immer gebrochen? Heißt das, wir dürfen einen Einzelnen töten, um viele andere zu schützen?
Es überraschte mich maßlos, als fast postwendend seine Antwort kam. Rubio saß am Rechner! Alarmiert warf ich einen Blick über die Schulter und spähte durch die Glasfront des Cafés zu Rubios Haus. Das Fenster war nach wie vor dunkel. Vielleicht stand sein Computer in einem anderen Raum.
Warum werde ich den Verdacht nicht los, dass du nur wegen dir selbst fragst? Was hast du angestellt, Schlafwandler Gil?
Diesmal wäre es beinahe ich gewesen, der die Verbindung kappte. Aber dann gab ich doch eine Antwort ein. Zugegeben, der klügste Schachzug war es nicht.
Und wenn es so wäre, alter Mann? Was ändert es an der Tatsache, dass wir alle in Gefahr sind und dass du die Klappe hältst, wo du reden müsstest? FEIGLING!
»Willst du wirklich keinen Kaffee?«, fragte die Bedienung. Eines musste man ihr lassen: Sie hatte ein unschlagbares Gespür für das falsche Timing. »Nein, danke!«, sagte ich betont höflich. Sie spürte wohl meinen Schatten, denn sie blinzelte verwirrt und zog sich dann so leise zurück, als würde sie sich vorsichtig aus der Reichweite eines Raubtiers entfernen. Als Rubios Antwort kam, war ich immer noch auf hundertachtzig.
Na gut, Hitzkopf, da du so gerne Schlüssel suchst:
Meinst du wirklich, das Fell des Nemeischen Löwen machte Herkules unbesiegbar? Unsinn. Der Löwe war sein eigener Schatten. Er musste sich selbst besiegen, um ganz zu werden. Wir hatten alle die Chance, so zu sein wie er.
Helden und – ja! – Hüter. Aber wir haben uns entschieden, Raubtiere zu sein. Und Raubtiere töten nun mal. So einfach ist es.
Ich schnaubte und kniff die Lippen zusammen, dann hämmerte ich in die Tastatur: ES IST KEINE ENTSCHEIDUNG!
Die Antwort kam fast im selben Atemzug: Lügner!
Grenzgänger
Zoë erwachte nicht wie ein Mensch, sondern wie ein Tier: Von einem Augenblick zum nächsten war sie mit allen Sinnen hellwach. Auf ihrem Wecker leuchtete die Mitternacht und das Zimmer war dank ihrer schärferen Sinne in Zwielicht getaucht. Irgendetwas war anders: Zum ersten Mal seit Wochen war sie einfach nur ruhig. Wie in der vergangenen Woche hörte sie auch jetzt das Atmen viel lauter und nahm alle Gerüche im Zimmer als Einheit von Farbe, Duft und Geschmack wahr. Aber die überempfindliche Wahrnehmung ängstigte sie nicht länger. Im Gegenteil. Nun fühlte es sich zum ersten Mal richtig an. Sie schloss noch einmal die Augen und spürte den Träumen nach, ein endloser, reißender Strom von wirren Bildern. Erschreckende Sequenzen einer Jagd. Ein Streiflicht in einer Seitenstraße, ein Uni-Button, der aufleuchtete. Gurgelndes, schäumendes Flusswasser und ihre bloßen Sohlen, die auf der Straße hämmerten. Und das Ziehen in den Schultergelenken, als sie sich aus dem Blazer wand, um Bewegungsfreiheit zu haben.
Nun, zumindest die Schmerzen hatten nachgelassen, zurückgeblieben war nicht viel mehr als ein Pochen in den Muskeln. Sie atmete tief durch.
Im selben Moment wurde ihr bewusst, dass es nicht ihr eigener Atem war, den sie die ganze Zeit über schon so deutlich hörte. Alarmiert fuhr sie hoch und blickte zum Fenster. Es stand offen. Richtig: Sie erinnerte sich daran, es selbst geöffnet zu haben, irgendwann zwischen zwei Träumen.
Ihr Kopf wusste, dass das, was sie dort sah, absolut unmöglich war. Und dass sie erstaunt oder erschrocken hätte sein müssen. Aber ihr Körper schien schon im Schlaf registriert zu haben, was sie nun erst bewusst wahrnahm: Auf dem Fensterbrett, die Ellenbogen lässig auf die Knie gestützt, hockte Irves. Barfuß, nur mit einer weißen Cargohose bekleidet.
»Hey, Durga-Girl!«, sagte er. »Willkommen im Club.« Seine Augen leuchteten wie Perlmuttscheiben unter geisterhaft hellem Haar. »Gehört das dir?«
Eine schwungvolle, knappe Bewegung aus dem Handgelenk. Einer
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