Titel: Nur geliehen . Trotz allem musste sie lächeln. Ihr wurde wieder schwindelig und flau im Magen, aber zum ersten Mal seit dieser Nacht hatte sie das Gefühl, wieder etwas Halt zu finden.
Rubio schien tatsächlich nicht da zu sein. Zumindest hatte er mich nicht erschossen, als ich wieder unter dem Fenster stand. Außerdem quoll sein Briefkasten fast über. Trotzdem stopfte ich noch den Rest meiner Fragen und Kopien hinein und betrat dann das Café. Bis auf die gepiercte Bedienung, die mich sofort wiedererkannte und mir zur Begrüßung zulächelte, war es leer.
Von:
[email protected]Datum: 21.03.2010 17:2 3 Uhr
An: ’zoe’
[email protected]Hallo Zoë. Ich hoffe, es geht dir gut und du hast den Schock einigermaßen verkraftet. Sicher weißt du es schon aus den Nachrichten: Einer deiner Verfolger ist heute tot aufgefunden worden. Jemand hat ihn in eine Sackgasse getrieben und dort umgebracht. Und auch Maurice wurde ermordet – allerdings schon vor einigen Tagen. Wir nehmen an, der Mörder ist einer der Alteingesessenen von uns aus der Stadt. Sind ihm auf der Spur. Wir müssen vorsichtig sein. Hier der Notfallplan für dich, d.h. die sicheren Zonen: U-Bahn, Lindenplatz (neutrales Gebiet). Bahnhof (meistens Durchgangszone), Oststadt, Irves’ Revier (Partymeile Weststadt), meine Gegend (Autohäuser/Industriegebiet plus Wohngebiet inkl. Verladehallen), Gizmos Gegend (Haltestelle E-Werk).
Tagsüber vermutlich relativ sicher: deine Schule, Sportplatz. Nimm dich nur vor Julian in Acht (der Blonde, der dich gestern gejagt hat). Bleib auf jeden Fall weg vom Krankenhaus, vom Alten Schlachthof, von der Brücke, dem Süden und dem Campus, bis wir mehr wissen. Und achte auf folgende Leute (siehe Anhang, Steckbriefe), die in der Stadt herumstreifen. Falls du einen von ihnen auf der Straße sehen solltest, bring dich sofort (!) in der nächsten U-Bahn-Station in Sicherheit und fahr am besten ein paar Stationen weiter. Sieh nach, ob dir keiner folgt. Im Anhang findest du alles, was du sonst noch wissen musst. Meine Handy-nummer steht auch dabei. Ruf mich an, wenn etwas ist, egal wann!
Einige Momente starrte ich nur auf die Tastatur und rief mir den Duft ihrer Haare ins Gedächtnis. Die Haut, ihr Herzschlag, so nah – und die grauen Augen, die den Schatten angenommen hatten. Ich dachte an das Bild der lachenden Zoë, das ich aus dem Internet ausgedruckt hatte, und verlor mich für ein paar Sekunden in der Erinnerung, sie in den Armen zu halten. Meine Vernunft befahl mir, logisch zu denken, aber mein dummes Herz wollte nicht gehorchen. Bei Zoës Lachen begann es schneller zu schlagen. Und irgendwo zwischen Schlüsselbein und unterster Rippe pochte noch etwas anderes, eine fast schmerzhafte, jähe Sehnsucht, die meine Gedanken abdriften ließ und mich trotz allem beinahe zum Lächeln brachte. Meine Finger schwebten über den Tasten, bereit für die nächsten Sätze, jene, die ich wirklich schreiben wollte: Ich träume von dir, Zoë. Davon, dir nahe zu sein, und sogar davon, dich zu küssen, davo n … Doch dann riss ich mich endlich zusammen, schrieb einfach nur: »Gruß, Gil« darunter und speicherte die gescannten Steckbriefe als Anhang. Schließlich fügte ich noch das wichtigste Dokument hinzu: den Kodex. Oder das, was ich bisher dafür gehalten hatte.
Die Bedienung fragte mich zum zehnten Mal, ob ich noch einen Kaffee wolle, und auch diesmal enttäuschte ich sie und ging wieder nicht auf ihren Versuch ein, ein Gespräch mit mir anzufangen. Stattdessen schrieb ich die zwanzigste Mail an Rubio:
Du denkst, ich kann mit den Mythen nichts anfangen, Rubio? Du denkst wirklich, ich bin blind? Nun, du irrst dich. Ich komme aus dem Maghreb, der Stamm meiner Mutter lebt 30 0 Kilometer südlich von Algier, auf dem Hochplateau, nahe am Himmel – und Haut an Haut mit der Wüste. Unser Geist lebt durch die Märchen und Geschichten, die unsere Frauen nach Anbruch der Nacht erzählen. Niemals am Tag, denn die Märchen haben ihre eigene Magie. Wer sie unbedacht verschenkt oder bei Tag erzählt, ist verflucht und wird krank. Bei diesem Stamm habe ich eines gelernt: Jede Geschichte hat ihren eigenen Schlüssel. Und jeder Zuhörer muss ihn selbst finden.
Totemtiere als Beschützer: Einige Indianerstämme glaubten, dass die Ältesten einst den Puma und andere Raubkatzen riefen, um die Welt und das Universum zu beschützen.
So galt der Puma als Beschützer des Nordens.
Jaguare als Seher: Die Huaroni, ein