Schattenauge
etwas aus Julian raus. Er hat schon mal geredet. Und ich muss herausfinden, was Rubio mit den Mythen meinte.«
»Mythen?«, sagte Irves. Wie immer, wenn sein Interesse geweckt war, kam plötzlich Spannung in seinen Körper. »Was für Mythen?«
»Rubio weiß etwas über unsere Geschichte«, erwiderte ich. »Zumindest tut er so.«
»Und angeblich hat er keinen Blackout nach dem Switch«, setzte Gizmo hinzu. »Er behauptet, er könne die Schatten der anderen sehen.«
In Irves’ Augen knipste sich ein Licht an. Das Sofa knarzte, dann war er auch schon direkt neben mir und spähte über meine Schulter zum Monitor.
»Wie soll das gehen?«, fragte er. Unwillkürlich umschloss ich den Trackball fester mit der Hand. Diese Nähe war wie immer eine grenzwertige Sache. Ein Teil von mir wollte ausweichen, der andere zwang sich zur Vernunft.
»Erzähl schon!«, drängte Irves. Ich zögerte, aber dann griff ich nach der Plastiktüte, in die ich meine gesammelten Aufzeichnungen und Ausdrucke gestopft hatte.
Zwei Stunden später sah Gizmos Keller aus, als hätte es in einer Druckerei eine Explosion gegeben: Papiere auf dem Boden, an den Wänden und neue Ausdrucke in verrutschten Stapeln auf dem Sofa. Gizmo studierte die Kopien aller Steckbriefe, die ich je gezeichnet hatte. Der Stadtplan mit den farbig schraffierten Bezirken – und neue Pfeile mit den Veränderungen, die aufgeweichten Reviergrenzen. Irves und ich durchforsteten meine alten Ausdrucke und die neuen, die wir eben aus dem Drucker gelassen hatten.
»Hier steht: Der Name des Volkes der Singhalesen leitet sich vom Wort ›Löwe‹ aus dem Sanskrit ab«, sagte ich. »Und das hier ist das älteste Abbild eines Löwenmenschen. Dreißigtausend Jahre alt, Altsteinzeit. Gefunden in einer Höhle in Deutschland.«
Die Abbildung war nicht besonders scharf, aber man erkannte trotzdem die kleine Skulptur aus Mammutelfenbein: der Kopf eines Höhlenlöwen, prankenartige Arme. Dazu der aufrechte Körper und die Beine eines Menschen. »Man nimmt an, dass es eine Gottheit darstellt«, fügte ich hinzu. »Vielleicht ist es aber die Darstellung eines Panthera. Würde jedenfalls passen: In jeder Kultur spielen Katzen eine besondere Rolle. In Ägypten wurden Pharaonen als Sphingen dargestellt, als Löwen mit Menschenkopf. Bastet, die Mutter des Löwengottes Mahes, war die Göttin der Stärke und des Guten. Dionysos reitet auf einem Leoparden. Und der Wagen der nordischen Göttin Freya wird von Katzen gezogen. Wenn Rubio damit Recht hat, dass die Darstellungen Symbole sind, dann gab es sehr viele von uns.«
»Die indischen Götter hatten Tiger und Löwen als Reittiere«, sagte Irves mit einem Funkeln in den Augen. »Vielleicht ist das auch nur ein Symbol. Die Doppelnatur. Die Schatten der Götter.« Ich wusste nicht warum, aber irgendetwas an Irves’ Begeisterung behagte mir nicht. »Vielleicht waren wir selbst die Götter«, setzte er fasziniert hinzu. »Und vielleicht haben wir geherrscht.«
»Götter«, stieß Gizmo verächtlich hervor. »Das hättest du wohl gern! Soll ich euch sagen, was ich von eurer Märchenstunde halte?« Er funkelte uns beide wütend an. Die Luft schien sich zu zwirbeln und an Spannung zu gewinnen wie ein Gummiband. »Gar nichts! Mich interessieren nur zwei Dinge. Erstens: Wer war’s? Zweitens: Wie stoppen wir ihn?«
Ich schwang mich mit dem Bürostuhl herum und starrte ihn an. Ganz neue Töne. Er hatte tatsächlich »wir« gesagt.
»Dieser ganze Kram hier ist völlig nutzlos«, fuhr Gizmo unwillig fort. »Symbole und Sagen – gut, dadurch wissen wir nur, dass es solche wie uns schon immer gab. Na und? Es geht hier nicht um Götter, es geht um irgendwen, der Leute wie uns abschlachtet, weil er mehr weiß oder stärker ist als wir. Es geht darum, den Typen zu finden und zum Teufel zu jagen. Und nicht um diesen Mythenscheiß!«
»Hey!«, rief Irves, als Gizmo einen sortierten Papierstapel mit solcher Wucht von der Sofalehne fegte, dass es mehrere Sekunden lang Sagen und Legenden schneite. In diesem Augenblick lernte ich etwas über Gizmo: Er war längst nicht so unberechenbar, wie ich immer gedacht hatte. Er spielte gern mit der Gefahr, solange er sie einschätzen konnte. Aber er hasste es, keine Kontrolle zu haben. »Also: Es geht darum, unseren Gegner einschätzen zu können – also um seinen Schatten«, knurrte er. »Wie kriegen wir raus, wie wir ihn sehen können?«
Irves verschränkte die Arme und lehnte sich an den Tisch. »Vielleicht hat es
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