Schattenauge
Gefahr definiert. Du glaubst, es ist weniger riskant, nachts aus dem Haus zu gehen und in irgendwelchen Clubs zu tanzen? Die Stadt ist voll von Gesindel – Vergewaltigern, Psychopathen, Junkies, die schon so weit sind, dass sie für den nächsten Schuss töten würden. Du begegnest ihnen jeden Tag. Jeder Mensch ist ständig in Gefahr. So ist das, wenn man im Dschungel lebt. Aber wir sind im Vorteil. Wir haben unsere Sinne. Also lerne sie zu gebrauchen, umso besser kommst du aus der Gefahrenzone.«
Gefahrenzone. Töten. Zum ersten Mal dämmerte Zoë, was sich alles verändert hatte.
»Du meinst wirklich, der Mörder ist hinter… uns her?«, fragte sie.
»Vielleicht ja, vielleicht nein.« Seine Stimme wurde leiser und er beugte sich vor, bis ihr sein Hautduft betörend intensiv in die Nase stieg. »Aber eines ist auf jeden Fall sicher: Wenn du in dieser Stadt durchkommen willst, musst du eines lernen: anzugreifen. Dazu sind wir da. Für die Jagd. Gil geht immer nur zurück und weicht aus. Mach nicht denselben Fehler.« Seine Stimme bekam wieder diesen ironischen Unterton. »Und hör um Himmels willen auf, die Treppe zu benutzen!«
Zoë leckte sich nervös über die Lippen und sah sich um. Gil hatte Recht gehabt: Angst und Nervosität ließen sie noch weiter in diesen Zustand driften. Ihre Umgebung erschien ihr wie ein Puzzle, von dem sie die Einzelteile zwar erkannte, die nun aber anders zusammengesetzt waren als sonst und ein ganz neues Bild ergaben. Eines, das ihr bedrohlich und dunkel erschien. Sie ballte die Fäuste und zwang sich dazu, nicht abzudriften.
»Ich will das nicht«, stieß sie hervor. »Ich will nicht noch einmal einen Blackout haben und irgendwo aufwachen. Und ich will nichts mit irgendwelchen Morden zu tun haben!«
»Wir sind alle Grenzgänger«, erwiderte er leise. »Es ist wie Seiltanzen, du musst nur lernen, das Gleichgewicht zu halten. Du musst sie nicht übertreten, aber geh an die Grenze! Ganz nah! Je näher du der Grenze bist, desto stärker wirst du sein. Und desto sicherer bist du.«
Er breitete die Arme aus und legte den Kopf in den Nacken. Dann atmete er tief und genüsslich ein. Mit klopfendem Herzen betrachtete Zoë die gespannte Linie seiner Kehle.
»Riechst du das?«, fragte er und sah sie wieder an. »Und die Stadt – hörst du sie? Nimm sie wahr. Probier’s aus, na los!«
Der Blick in seine Augen hatte etwas Hypnotisches und Zoë konnte nicht anders, als der Versuchung nachzugeben. Obwohl sie vor Angst völlig verkrampft war, entspannte sie ihre Hände und – ließ es einfach zu. Sie hörte das Sirren von Elektronik und das hohe Pfeifen alter Fernseher hinter den Glasscheiben. Süßes Parfüm irgendwo, der stechend frische Lackgeruch des neuen Straßenschilds, ein Handyklingeln drei Straßen weite r …
»Merkst du es? Die Welt fächert sich auf«, fuhr Irves fort. »Als hätte man vorher nur vier Karten im Spiel gehabt, und jetzt sind es plötzlich dreißig, vierzig oder mehr: Gerüche, Geräusche, Formen. Und das ist noch lange nicht alles. Fast alle Raubkatzen schaffen locker mindestens fünfzig Stundenkilometer auf der Jagdstrecke. Klettern, Sprungvermögen, Wahrnehmung, Koordination, Gehör, schnellere Wundheilung. Und die Leute um dich herum spüren den Schatten und gehen dir aus dem Weg, wenn du es darauf anlegst. Man wäre doch ein Idiot, das alles nicht zu nutzen.« Er drehte sich abrupt um und ging mit federnden Schritten die Straße entlang. »Komm!«, rief er ihr über die Schulter zu.
Zoë fragte sich, was jemand denken mochte, der sie hier sah – ein Paar, das im März barfuß spazieren ging. Der raue Straßenbelag drückte sich unangenehm in ihre Sohlen, doch sie spürte die Kälte kaum. Sie wollte Irves noch unendlich viel fragen, aber dann ließ sie sich auf den gleichmäßigen Takt ihrer beider Schritte ein. Seltsamerweise genügte es tatsächlich, einfach die Eindrücke einzusaugen. Irves wurde unmerklich schneller und schließlich strebten sie Seite an Seite dahin, geschmeidig, kraftvoll, mit langen Schritten.
Erst in der Nähe des Planetariums horchte Zoë auf.
Schleif – klick-klick . Stille.
Dann das Schaben von Atem, der durch eine enge Kehle strömte. Der Blonde? Die erste Reaktion war wieder Sorge, aber gleichzeitig fühlte sie noch etwas anderes: einen zornigen Trotz. Einmal habt ihr mich gejagt, dachte sie. Aber keiner vertreibt mich aus meiner Stadt!
Ein Windstoß trug ihr eine Witterung zu. Es war nichts Menschliches. Sondern
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