Schattenauge
kompliziert. Du fragst dich immer noch, warum es den einen trifft und den anderen nicht. Ganz einfach:
Das Tier ist ein Teil der menschlichen Natur. Du hast richtig vermutet, als du sagtest, dass wir in jeder Kultur eine wichtige Rolle spielen (oder jedenfalls spielen sollten).
Aber du täuschst dich in der Annahme, wir seien eine Sonderform oder Mutation. Nein, jeder Mensch hat seinen Schatten. Jeder, Gil! Und je heller Menschen strahlen, desto dunkler und größer kann auch ihr Schatten sein.
Jeder Mensch? Der Gedanke erschien so absurd, dass ich mir unwillkürlich Choi vorstellte und mir einen Panthera-Schatten dazudachte. Aber alles, was mir bei ihm einfiel, war ein durchgeknallter Terrier, der jeden Polizisten anfiel.
Er zeigt sich oft in der Jugend, beim Übergang ins Erwachsenenalter. Manchmal aber auch erst später – wie bei mir. Ich war schon eine Weile Arzt, als ich meinen Schatten fand – oder er mich. Es war in einer Notsituation, als ein Patient versuchte, sich aus dem Fenster zu stürzen, und mich beinahe mit in die Tiefe gerissen hätte, weil ich ihn zurückhalten wollte. Ich zweifelte in jener Zeit an mir selbst und an der Welt. Ich war zerrissen und unglücklich. Ich lud den Schatten mit meiner Verzweiflung und meiner Furcht vor dem Tod ein – und überlebte den Sturz.
Ein Prinzip scheint es dabei zu geben: Es geschieht immer in einer Lebensphase, wenn nichts fest gefügt ist, wenn Zweifel und Neuorientierung anstehen, wenn der Druck zu groß wird. Und manchmal auch, wenn die Diskrepanz zwischen dem, was dein Herz will, und dem, was du dich zu tun und zu sein zwingst, zu groß und unvereinbar ist. Ich wollte der Herr über das Leben sein und weigerte mich, den Tod zu sehen. Meine Furcht vor ihm war so groß, dass ich zu leben vergaß.
Im Prinzip hast du also Recht mit dem, was du bei den Initiationsritualen vermutest. Ja, wenn die Indianer ihr Seelentier suchen, dann begegnen sie ihrem Schatten zum ersten Mal bewusst. Allerdings werden die meisten Menschen nur kurze Zeit von ihm begleitet und gehen kein einziges Mal über die Grenze. Sie nehmen ihn nur am Rand wahr – als schwierige Phase, als Unruhe, als Albtraum, als Verrücktheit – und lassen ihn verblassen. Manche verleugnen ihn auch bewusst und leben dadurch wie Einbeinige, die sich mühsam durchs Leben bewegen. Einige wenige aber rufen ihn über die Schwelle und erwecken ihn. So wie ich damals. Und so wie du, ob du es wahrhaben willst oder nicht. Man hat nur ein kleines Zeitfenster, um sich zu entscheiden. Und du hast dich entschieden, Gil.
Du hast ihn gerufen, aber du weigerst dich immer noch, ihn anzusehen. Und du weißt es.
Zoë träumte. Die Erinnerung daran, wie der Hund in der Nacht vor ihr geflohen war, war süß und köstlich wie der Geschmack von Fleisch. Keine Flucht mehr, kein Schmerz, keine Angst. Nur etwas, was sie noch nie zuvor gefühlt hatte: Das hier war… wie tanzen! Nur dass sie vier Beine hatte und Sohlen, so weich und gepolstert wie Turnschuhe. Bei jedem Sprung glitt die Landschaft unglaublich schnell an ihr vorbei. Viel Luft in den Lungen und Bewegungen, die ein Gleiten waren. Zwielicht und Nebelatem. Blaue, aufstrebende Silhouetten von Nadelbäumen, felsiger Untergrund, auf dem ihre Pfoten mühelos Halt fanden. Das flüsterleise Brechen von trockenen Baumnadeln begleitete sie wie eine Melodie, der Duft von Nadelwald und… die Witterung eines fliehenden Tieres. Fell! Oder… Leder? Zoë spürte, wie sie lächelte, obwohl ihr anderes Ich nicht lächeln konnte. Schlafwandlerisch sicher jede ihrer Regungen: Heute war sie es, die jagte. Es war wie Heimkommen – und zwar an den richtigen Ort. Ihr Atem strömte durch sie hindurch und mit ihm pumpte das Blut durch die Muskeln. Konzentration, schneller werden. Sie sah den Hund und roch seine Angst. Mühelos holte sie ihn ein, trieb ihn erst durch den Wald, dann plötzlich durch Schluchten. Sie sprang vor und schnitt dem Hund mit einem Satz den Weg ab. So mühelos, als würde sie mit ihm tanzen, wich sie den schnappenden Zähnen aus. Die Traumbilder klarten auf, jetzt war es nur noch Erinnerung. Sie hatte den Hund in eine Gasse hinter dem Planetarium getrieben und ihn erst dort entkommen lassen. Das hatte Irves gemeint! Nur hatte sie nicht geahnt, wie einfach es sein würde: die Fähigkeiten, die sie hatte, wachzurufen und zu erproben, ein Balanceakt dicht an der Grenze. Schwindelerregend nah am Abgrund, aber immer noch sicher. Dicht am Übergang zum schwarzen
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