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Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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Nichts, aber dennoch war sie immer noch bei sich, immer noch Zoë, und sie erinnerte sich an jedes Detail. Dann bekam der Traum wieder eine andere Färbung. Der verblassende Geruch von Nadelwald mischte sich mit Benzindämpfen und Auspuffgasen. Motorradgeräusche. David, wie er auf einer Straße dahinbrauste. Und sie neben ihm, in mühelosen Sätzen, leise und schnell wie sein Schatten. Er entdeckte sie nur, weil er nach links blickte, um ein Schild am Straßenrand zu lesen, und klappte den Mund zu einem Schrei auf – genau im selben Moment, in dem sie sich abfederte und sprang.
    Auch diesmal war sie sofort hellwach, im Bett sitzend und dem vibrierenden Hochgefühl des Jagens und Laufens nachspürend. Sie streckte sich (keine Spur von Muskelkater mehr) und sprang aus dem Bett. Sie hatte lange geschlafen, es war fast schon Mittag. Auf dem Handy nur eine Nachricht von Irves: Sonntag Exil, 1 Uhr? Electronic Beat Night!
    Für einige Augenblicke kämpfte sie gegen die Enttäuschung an, keine Nachricht von Gil zu haben, dann schaltete sie den Computer ein. Sie starrte so konzentriert auf den Monitor, als wollte sie eine Nachricht von ihm beschwören. Als tatsächlich zwei Mails von ihm eintrudelten, machte ihr Herz einen Satz – doch dann sah sie, dass es wieder nur Informationen waren. Missmutig klickte sie weiter. Zwischen mehreren Mails von Paula eine Nachricht, die wie eine verirrte Postkarte aus einer lange vergangenen Zeit wirkte: Ich war ein Idiot. Es ist aus. Liebe Grüße, Ellen. Im Anhang ein Bild: zwei Mädchen mit Zahnlücken und regennassen Haaren, grinsend wie Fledermäuse. Schulausflug Juni 2001.
    Zoë starrte das Bild eine volle Minute an . Alles ist anders, Ellen , dachte sie mit einer traurigen Wehmut. Als sie sich dabei ertappte, wie sie ihr eigenes Mädchengesicht nach Spuren von Katzenzügen absuchte, fuhr sie den Computer runter.
    Auf dem Küchentisch erwartete sie schon ein Zettel.
    Guten Morgen, Schöne! Hoffe, es geht dir besser. Mach dir einen schönen Freitag! Die Entschuldigung für die Schule schreibe ich dir heute Abend noch. Ansonsten:
1. Schinkenauflauf ist im Kühlschrank.
2. Dein Termin bei der Hausärztin ist um 1 4 Uhr. Bitte geh auf jeden Fall hin, auch wenn du kein Fieber mehr hast!
3. Die Praxis ist ja in der Nähe des Lindenplatzes, also sei so lieb und nimm die Fotos für Dr. Rubio mit. Wirf sie ihm einfach auf dem Heimweg in den Briefkasten.
4. Gestern Abend habe ich mit deiner Lehrerin telefoniert, Frau Thalis. Auch wenn du jetzt böse auf mich bist: Ich unterschreibe es nicht. Das Training ist für dich zu anstrengend. Ich fürchte, dass deine anderen Leistungen in der Schule darunter leiden, du bist jetzt schon in Mathe hart an der Grenze. Wir reden heute Abend!
5. Leon wird um fünf zurückgebracht. Ich versuche, rechtzeitig da zu sein. Aber wahrscheinlich schaffe ich es nicht. Mach dem Kleinen einfach etwas von dem Schinkenauflauf warm.
6. Kuss!!! Mama
    Zoë spürte kaum, wie sie den Zettel zerknitterte und in die Ecke pfefferte. Die Wut war so jäh und schneidend, dass sie die Augen schließen musste. Die Verschiebung war spürbar, wie ein Haarriss in einem Zahn bei der Berührung mit Eiswasser. Ein Impuls, der bis in die letzte Nervenfaser ging. Und dann geschah etwas Seltsames: Sie roch Maurice!
    Flashback.
    Für einige Sekunden war es Nacht und sie rollte sich auf dem Boden ab, voller Triumph, entkommen zu sein, die Hand noch schmerzend von einem Schlag, der gut getroffen hatte.
    Flashback Ende.
    Japsend holte sie Luft und öffnete die Augen.
    Küche. Alltag.
    Gefängnis.
    So trocken Gils Ratschläge waren, so nützlich waren sie heute auch. Es war tatsächlich keine gute Idee, sich ohne Hörschutz durch die Stadt zu bewegen. Schon nach zwei Straßen gab Zoë auf und kaufte sich in einer Drogerie Ohrstöpsel. An der Kasse blickte sie immer wieder nervös auf die Uhr. Schon fast eins. Im Gehen rief sie sich die sicheren Zonen ins Gedächtnis: U-Bahn, drei Stationen zum Sportplatz der anderen Schule. Und bis zur Haltestelle waren es noch drei Straßen. Ihre Tasche schlug bei jedem Schritt gegen ihre Hüfte, als sie die Straße entlangrannte. Trotz des Gehörschutzes machte sie das durchdringende Kreischen einer Steinsäge so aggressiv, dass die Leute, die ihr entgegenkamen, ihr unwillkürlich auswichen oder verblüfft einen Bogen um sie machten. Ein kleines Kind in einem Kinderwagen starrte sie mit offenem Mund an wie einen Geist. Die Leute um sie herum spürten

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