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Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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zu diesem Training waren die Nachmittage mit der Marathongruppe ihrer eigenen Schule gemütliche Joggingtreffen gewesen. Und Carla machte es ihr kein bisschen einfacher. Schon nach einer halben Stunde war Zoë kurz davor, das Handtuch zu werfen. Doch als Carla beim Hundertmetersprint schon auf den ersten Metern mühelos an ihr vorbeizog, biss Zoë die Zähne zusammen und ließ es zu, dass ihre Wut und ihr ganzer Frust sie bis an die Grenze trieben. Der Schmerz in den Muskeln wurde abrupt besser, das Blut pochte in ihren Schläfen. Mit aller Kraft stellte sie sich vor, sie wäre in ihrem Traum und würde wieder neben Davids Motorrad rennen. Auf der Jagd mindestens fünfzig Stundenkilometer , hallte Irves’ Stimme in ihrem Kopf. Und plötzlich war es einfach und mühelos. Die Bahn schnurrte zur Linie zusammen, sie hörte nur noch Carlas empörten Aufschrei, als sie an ihr vorbeischnellte. Im nächsten Augenblick, so schien es ihr, flog sie über die Ziellinie. Die Blonde, die die Zeit nahm, starrte verblüfft auf die Stoppuhr. »Gute Zeit«, sagte sie verwundert. »Extrem gute Zeit!«
     
    Es waren nur wenige Stationen zu Dr. Rubios Wohnung. Lindenplatz. Neutrale Zone, rief sie sich ins Gedächtnis. Sie stieg aus der U-Bahn und sprintete die Treppen hinauf. Es fiel ihr leicht, obwohl sie bereits spürte, dass ihre Muskeln am Ende waren. Aber immer noch schwebte sie im Triumph des Sieges. Allein Carlas Blick war es wert gewesen.
    Der Lindenplatz war leer bis auf ein paar Mütter, die beim U-Bahn-Schild standen und plaudernd eine kleine Herde von Kinderwagen bewachten. Im Laufen griff Zoë in ihren Rucksack und zerrte ungeduldig die beiden Fotopäckchen von Dr. Rubio heraus. Wenn sie sich beeilte, konnte sie gleich die nächste Anschlussbahn erwischen, die in knapp zwei Minuten fuhr. Dann hatte sie noch einige Stunden für sich, bevor Leon wieder seinen Platz in der Wohnung und in ihrem Leben einnahm.
    Rennend überquerte sie den Platz und sprintete um die Ecke. Um ein Haar hätte sie eine Frau umgerissen, die mit einem Stapel von Papieren unter dem Arm vor einem Haus stand. Ein Stoß gegen die Schulter, dann fielen zwei Mappen zu Boden. Eine Papierkaskade ergoss sich auf das Pflaster. Geschäftspapiere mit einem blauen Logo.
    »Entschuldigung«, stieß Zoë atemlos hervor. Sie ging in die Hocke und versuchte mit einer Hand die Bögen aufzusammeln. Doch es war nicht so leicht, wenn einem ein Zuviel an Parfüm fast die Nase röstete. Zitrone und noch ein anderer, viel zu intensiver Geruch. Sie schluckte krampfhaft, um ein Würgen zu unterdrücken.
    »Schon gut«, sagte die Frau unwirsch. Sie war so wütend, dass sie Zoë nicht einmal ansah. »Lass das liegen und fass nichts an! Du bringst es nur durcheinander!«
    Zoë konnte sich denken, was die Frau in ihr sah: eine verschwitzte, ungeschickte Schülerin in Joggingklamotten. Auch gut. Ein Blick auf die Uhr zeigte Zoë, dass sie nur noch eine knappe Minute hatte. Also sprang sie auf und rannte weiter – zur grauen Eingangstür und zu dem Briefkasten, wo sie die Fotopacken einwarf. Die Frau sammelte immer noch Papiere ein, also lief Zoë kurzerhand um das Gebäude herum und an der Straße zurück in Richtung Lindenplatz. Irgendein getuntes Moped gab ganz in der Nähe kreischend Gas, ein Geräusch, das sich in ihrem Kopf trotz der Ohrstöpsel so anfühlte wie tausend kleine Presslufthämmer. Vielleicht nahm sie deshalb erst nicht wahr, dass etwas viel zu dicht an ihr vorbeiglitt. Erschrocken sprang sie zur Seite. Der Wrestler?, schoss es ihr durch den Kopf. Doch da nahm sie schon die Molekülwolke wahr: Leder, Auspuffgase, Haut. Hastig holte sie die Stöpsel aus den Ohren und zuckte zusammen, als die Geräuschwelle über ihr zusammenschlug. Das Mopedkreischen wurde zwar leiser, je mehr sich das Gefährt entfernte, dafür hörte sie aber das Brummen von Ampeln, das Gerede der Mütter, Autos und Elektronik. Und schließlich: Davids Motorrad.
    Er fuhr einen scharfen Schlenker und bremste so abrupt vor ihr, dass er ihr den Weg zur U-Bahn-Station abschnitt. Mit einer genau abgezirkelten Geste, die Zoë so gut kannte, nahm er den Helm ab. Der Duft nach warmem Haar umfing sie und rief weitere Erinnerungen wach. Seltsamerweise gab es ihr heute keinen Stich.
    »Ganz schön schnell gesund geworden«, bemerkte David kühl und musterte ihr Trainingsoutfit.
    »Ich wüsste nicht, was dich das angeht«, gab sie ruhig zurück.
    »Vermutlich genauso viel wie dich meine

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