Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
mich gestoppt. Warum kämpfst du nicht um Karrs Leben?»
Ich drehe mich von ihm weg. Gehe ein paar Schritte. Da ist er. Ich habe den richtigen Baum für Karr gefunden. Eine Buche, ganz nah bei Sjölls, mit ein paar geknickten Ästen. «Ich brauche dein Messer!»
Thursen kommt zu mir herüber und gibt es mir. Ich klappe es auf und schneide Karrs Namen in den Baum neben Sjölls. Die Rinde ist hart. Beim ersten r rutsche ich ab und schneide mir in den Finger. Beim zweiten r bin ich vorsichtiger. Schaffe es. Karrs Name.
Thursen sieht mir zu. «Manchmal muss man jemanden einfach gehen lassen», sagt er leise.
«Hier», sage ich und meine nicht das Messer, das ich Thursen zurückgebe. «Hier sollst du dich immer daran erinnern, wen du gehen lassen wolltest!»
«Luisa, es war das Richtige, glaub mir.»
Ich habe genug. Er will es nicht verstehen. «Da», ich zerre Karrs Schale aus der Jackentasche und halte sie ihm hin. «Ich muss nach Hause. Grüß die anderen.»
Statt der Schale nimmt er meine linke Hand, besieht sich den blutenden Finger. Tupft die paar Tropfen Blut mit einem sauberen Papiertaschentuch ab. «Kommst du wieder?», fragt er.
«Nein.»
«Warum nicht?»
Ich ziehe ihm meine Hand weg. Sehe ihm mitten ins Gesicht. «Weil ich ein Problem damit habe, wie einfach ihr mit dem Sterben umgeht. Sjöll ist tot. Aber nichts ändert sich. Am nächsten Tag treibst du dich wieder vor der Flinte des Jägers herum. Als seist du gegen Kugeln gefeit. Stattdessen wollt ihr den Jäger töten. Und dir ist es offenbar auch egal, ob Karr lebt oder stirbt. Ist dir ein Werwolfsleben denn gar nichts wert?»
Er streicht mir mit seiner Fingerspitze über die Wange. Zeichnet die Spuren der Tränen nach. Ganz leicht. «Ach, Luisa. Im Grunde sind wir doch schon tot.»
«Seid ihr jetzt Vampire oder so etwas? Untote? Lebende Leichen?»
«Quatsch.»
«Aber das tut weh, ja?» Meine Faust schlägt auf seinem Arm auf. Kräftig. Nur die Lebenden fühlen Schmerz.
«Au!» Er reibt seinen Arm. «Wir alle wollten schon vor langer Zeit sterben. Das hier sind nur geborgte Tage. Als Karr noch Moritz hieß, wollte er sterben. Er hat sein Leben gehasst. Karr, der Werwolf, konnte es ertragen. Jetzt klappt das mit dem Verwandeln nicht mehr. Er ist wieder Moritz und alles noch auswegloser als am Anfang. Was erwartest du?»
«Ich habe genug. Sterbt doch alle miteinander! Los, geh zu deinen Werwolfskumpels und erzähle ihnen, wo du Karr gelassen hast! Erzähl ihnen, wie du auf dein Rudel aufpasst, du Leitwolf.» Diesmal knalle ich ihm die Schale so vor die Brust, dass er sie nehmen muss.
Ich wandere an den Bäumen entlang. Einmal noch fahren meine Finger die Namen nach. Fabian. Sjöll. Karr.
Über die Schulter sehe ich, wie Thursen zum Lager geht. Wo sind seine geschmeidigen Wolfsschritte? Heute ist es kein Tanz, heute sind es die kraftlosen Schritte eines besiegten, geschlagenen Wolfs.
Ich muss nach Hause. In die andere Richtung, zum Waldrand, zum Wanderweg zurück. Ich marschiere entschlossen los. Thursen wollte, dass Karr einfach selbst entscheidet, ob er leben oder sterben will. Und damit kann ich nicht leben. Doch schon am Waldrand werde ich langsamer, stolpere. Warum fühlt es sich so falsch an, wegzugehen? Thursen kannte Karr besser als ich. Und mich? Warum hat Thursen mich nicht springen lassen, damals? Wusste er, dass ich anders bin als Karr? Kannte er mich so genau, auf den ersten Blick?
Bei jedem Schritt, den ich vom Wolfslager weg mache, wird mein Herz schwerer. Thur-sen, Thur-sen, Thursen, höre ich es schlagen. Und wenn ich einmal, nur dies eine Mal, meine Meinung ändere? Nicht gehe, wie ich es eigentlich wollte? Ich müsste nichts tun, nichts erklären, mich nicht entschuldigen. Nur stehen bleiben, mich umdrehen und ihm nachlaufen.
Ich bleibe stehen. Drehe mich um und fange an zu laufen. Laufe immer schneller, atemloser. Als Thursen meine Schritte hört, bleibt er stehen, dreht sich zu mir und fängt mich in seinen Armen auf. «Bitte bleib», flüstert er.
Ich schlage meine Fäuste gegen seine Brust. «Warum gibst du Karr einfach auf?»
«Und warum bist du so wütend darüber? Ich bin es doch, der dazu stehen muss.»
«Du hast mich gezwungen, Karr aufzugeben, Thursen. Du hast mich festgehalten, damit ich nicht helfen konnte!»
«Ich wusste, was er vorhatte, Luisa! Ich konnte dich ihndoch so nicht sehen lassen. Ich weiß nicht, aber das wäre bestimmt furchtbar für dich.»
Du weißt das sehr wohl, Thursen, denke ich, du
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