Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
Klassenliste!»
Edgar? Da war was. In meinem Kopf taucht verschwommen ein Gesicht auf. Rundlich, blaue Augen, Locken in einer Farbe irgendwo zwischen Milchkaffee und Kinderkacke. Er hat sich mir gleich an meinem ersten Tag vorgestellt, mit entgegengestreckter Hand und mit dem gleichen breiten Lächeln, das ich jetzt durchs Telefon höre. Ist unser Vertrauensschüler, Streitschlichter, Klassensprecher oder irgend so etwas. Aufdringlich. Ich frage mich, ob er damals meine Klassenkameraden bestochen hat, damit sie ihn in sein Amt wählen. «Was willst du?»
«Du warst heute nicht in der Schule.»
Wow, Stasi! «Gehört das Überwachen zu deinen Aufgaben? Erzählst du den Klassenlehrern, was du rauskriegst, oder berichtest du gleich der Schulleitung?»
Bei Edgar dröhnt mit einem Mal laute Musik im Hintergrund, und ich höre ihn schimpfen: «Mach doch mal den Fernseher leiser!» Ein Knall, wie von einer Tür, dann wieder seine Stimme: «So, jetzt bin ich in meinem Zimmer. Entschuldige, was hast du gesagt?»
«Schon gut. Ich war also nicht in der Schule.»
«Na ja, ich dachte, wenn du krank bist, möchtest du bestimmt die Hausaufgaben haben. Ich wusste nicht, ob du schon jemanden aus der Klasse kennst.»
«Nein!», sage ich.
«Wie, nein?»
«Nein. Nein, ich kenne niemanden aus der Klasse. Nein, ich will keine Hausaufgaben. Nein, ich bin auch nicht krank!»
«Vielleicht könnte ich …»
«Und vor allem das: Lass mich in Ruhe! Ich entscheide selbst über mein Leben!»
Ich höre ihm nicht weiter zu und unterbreche das Gespräch. Wenn ich gleich die blöde rote Aus-Taste gefunden hätte, wäre es noch wirkungsvoller gewesen. Wenn man das Telefon gegen die Wand wirft, ist das Gespräch dann auch zu Ende?
Edgars Anruf hat die Wut in mir geweckt. Die gleiche grüne Wut, die mich damals dazu gebracht hat, Thursens Bedenken beiseitezuwischen und mit zu den Wölfen zu kommen. Norrock hat recht. Ich bin eine von ihnen. Heute wird Thursen sich nicht vor mir verstecken. Was soll er auch tun? Schreien? Wüten? Toben? Das kann ich genauso gut. Ich dusche lange und heiß, dann ziehe ich mich an. Das Rauschen des Wassers hat gutgetan und die schwärzesten Gedanken fortgewaschen. Thursen hat mich weggeschickt, weil er es für zu gefährlich hielt. Ich entscheide selbst über mein Leben, wie ich es Edgar gesagt habe. Ich will mit Thursen zusammen sein. Wenn das der Preis ist, nehme ich die Gefahr auf mich, dass mich die Wölfe verletzen. Und feiere schwarze Messen mit Norrock.
Als ich im Wald bin, hat der Regen aufgehört und hängt nur noch als Tropfen im Gezweig. Ich achte darauf, dass niemand mir folgt, als ich den Wanderweg verlasse. Ich weiß nicht, vor wem sie sich verstecken, aber ich habe Thursen versprochen, das Lager und die Wölfe nicht zu verraten. Der weiche Boden verschluckt meine Spuren. Ich finde das Wolfslager schnell. Aber auch dieses Mal ist Thursen nicht zu sehen. Dafür Karr. Und Norrock.
«Wo ist Thursen?», frage ich, als ich wütend und entschlossen ins Lager stampfe.
«Jetzt hast du es verschreckt», beschwert sich Karr. Zwei Nüsse in der Hand, steht er neben einer turmhohen Fichte. Ein Eichhörnchen huscht hastig den Stamm hinauf und verschwindet hoch oben zwischen den Zweigen.
«Das wäre eh nicht zu dir runtergekommen, Karr», sagt Norrock. «Nicht mitten zwischen die Wölfe.» Einer davon sitzt neben ihm. Ich erkenne den Wolf aus dem Vollmondkreis am Ohrring, den er trägt. Silbern, wulstig, rund und groß wie ein Centstück. Genau wie der Ring, der an Sjölls Ohr baumelt. Ein Stück weiter liegt der struppige Lurnak im Laub und träumt mit zuckenden Pfoten.
«Thursen kommt bestimmt gleich», sagt Karr, lächelt mir zu. Dann läuft er tiefer in den Wald, vielleicht hofft er auf ein zahmeres Eichhörnchen.
Nach gestern weiß ich nicht, was ich mit Norrock reden soll. Ich würde gern wissen, was passiert wäre, wenn ich geblieben wäre. Und frage dann doch etwas anderes, Flacheres, nur um die Stille zu zerbrechen. «Ist das Sjölls Wolf? Er hat den gleichen Ohrring wie sie.»
«Sjölls Wolf? Er hat dir wirklich nichts gesagt?», lacht Norrock, und es klingt, als wenn ihn seine eigenen Worte im Hals kratzen. Rauswollen. «Gar nichts über uns?»
«Hab ich nicht!» Thursen ist da, und ich habe sein Kommen wieder nicht bemerkt. Müde ist er, seine Augen noch umschatteter als sonst, und nur sein Stolz lässt ihn den Kopf aufrecht tragen. Er weicht meinem Blick nicht aus. Ich will ihm seine
Weitere Kostenlose Bücher