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Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Titel: Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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mir lösen. Renne einfach vorwärts, weg von ihm. Streife ein Farnkraut, reiße mir an einer stachligen Brombeerranke die Hand auf, verdrehe mir an einem Grasbüschel den Fuß. Bleibe atemlos stehen und drehe mich um. Da sitzt er, das Gesicht in den Händen vergraben, allein. Als er hört, dass ich nicht mehr laufe, hebt er den Kopf und sieht mich an. «Ich bin immer noch derselbe, Luisa», sagt er.
    Derselbe wie gestern, vorgestern und an den Tagen davor. Derselbe, der mich davon abgehalten hat, zu sterben. Nichts hat sich geändert. Ich beginne nur, endlich zu verstehen.
    Der Regen kommt zurück und tropft kleine glitzernde Diamanten in Thursens Haar. Auch wenn es ihm nichts auszumachen scheint, ich friere im Regen. Ich ziehe mir meine Kapuze über den Kopf, wünschte, ich könnte mich in meiner Jacke verkriechen wie eine Schildkröte in ihrem Panzer.
    «Siehst du, jetzt läufst du doch weg.» Thursen stützt das Gesicht wieder in die Hände. Die nassen Haare fallen nach vorn und lassen sein Gesicht ganz verschwinden.
    Soll ich weglaufen? Bis nach Hause laufen, alles vergessen und nie wiederkommen, wie Thursen es mir so oft gesagt hat?
    «Es tut mir leid», sage ich.
    «Dir?», höre ich ihn murmeln.
    «Mir. Ich habe gesagt, ich bleibe, höre mir alles an, und jetzt bin ich doch weggerannt.»
    Langsam komme ich wieder näher, zurück zu ihm. Setze mich. Wieder mit Abstand. Halte den Kopf unter der Kapuze gesenkt, damit mir die Tropfen nicht ins Gesicht laufen. Versuche, meine Hände, so gut es geht, in die Ärmel zu ziehen.
    «Es ist also ganz leicht, sich zu verwandeln?», frage ich in den Regen. Versuche, dort wieder anzuknüpfen, wo ich den Gesprächsfaden abgerissen habe. «Einfach so? Kein Vollmond? Nichts?»
    Thursen schüttelt den Kopf. «Am Anfang ist es schwieriger. Der Vollmond hilft. Dann, mit mehr Übung, wird es immer leichter. Irgendwann verwandelst du dich von selbst.» Er spricht sehr leise, aber er hört sich noch genau wie vorher an, als die Welt noch auf den Füßen stand, als ich sein Geheimnis nicht kannte.
    «Du bist oft Wolf?», frage ich. «Eigentlich immer.»
    Ich nicke. Versuche es mir vorzustellen, wie er als Wolf durch die Wälder streifte, wenn ich zu Hause in meinem Zimmer saß. Wie er mit Jerro und Fath nach Stöcken jagte. Mit Lurnak in der Sonne lag. Das ist Thursens Weg aus dem Schmerz. Für mich gibt es nur zwei Möglichkeiten,weiterleben oder sterben. Er hat einen dritten Weg gefunden. Ich muss mich erst räuspern, ehe ich sage: «Aber jetzt sitzt du hier. Als Mensch. Mit mir.»
    «Als Mensch wegen dir», sagt er. «Ich bin dir nachgelaufen, damals, durch den Wald, bis zum Turm. Und auf einmal stehst du da oben auf der Brüstung! Ich konnte dich doch nicht springen lassen! Als Wolf bin ich unten locker durch die Seitentür gekommen und die Treppen raufgesprungen. Du hast mich nicht kommen sehen, warst abgelenkt, standest immer noch da und hast runtergeguckt. Da wusste ich, dass ich jetzt meine Menschenhände brauchte, um dich festzuhalten. Und ich habe mich in einen Menschen verwandelt.»
    Der Wolf, der mir schon Tage und Wochen vorher gefolgt war. Das war immer Thursen gewesen. Nicht sein Wolf. Thursen selbst.
    «Im Lager, da warst du doch auch ein Mensch.»
    Er schnaubt. «Erst als du mich gerufen hast.»
    «War sie deshalb so überrascht, dich zu sehen? Sjöll, meine ich.»
    Er nickt wieder. «Sie kannte mich nur noch als Wolf. Hatte wohl vergessen, wie ich als Mensch aussehe. Fast alle hatten es.»
    «Warum verwandelst du dich denn nicht in einen Menschen zurück, wenn du Wolf warst?» Verdammt, er ist doch ein Mensch. Er muss doch als Mensch leben!
    Er zuckt die Achseln. «Es ist so mühsam. Anstrengend. Wir Werwölfe verändern uns. Jede Verwandlung fällt leichter und jede Rückverwandlung schwerer. Wir werden mit der Zeit blasser, farbloser, wenn wir in Menschengestalt sind. Vielleicht gehören wir nicht mehr in eure Welt, ich weiß nicht.»
    Darum also sieht er so anders aus. Nicht nur blass, wie nach zu viel Waldschatten und zu wenig Sonnenlicht. Los, sieh hin, befehle ich mir selbst. Sieh, wie er aussieht!
    Eine Weile ist es still. Thursen sieht mir aufmerksam zu, wie ich ihn betrachte. Haare, grau wie Krähenfedern hat er, und Augen, ein wenig dunkler als flüssiger Stahl. Ich kann mir nicht helfen, aber ich finde ihn immer noch schön. Unmenschlich vielleicht und raubtierschön. Aber schön.
    Dann höre ich, wie Thursen Luft holt. «Da ist noch was», sagt er.
    Nein!

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