Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
dunklen Strähnen aus den Augen streichen. Er zuckt zurück, ein wenig nur, aber es reicht, dass meine ausgestreckte Hand ratlos in der Luft hängen bleibt.
Meine tastende Hand wird zur Faust. Ich halte es nichtmehr aus, sein Versteckspiel. Immer laufe ich ihm hinterher, und immer ist er schneller als ich. Hält mich auf Abstand und lässt mich keinen Schritt näher an sich heran. «Dann sag es mir jetzt!», schleudere ich ihm ins Gesicht. «Was ist mit euch? Was ist mit Sjölls Wolf?»
«Soll ich es dir sagen?», höhnt Norrock.
«Nein!», fauche ich. «Das will ich von Thursen selbst hören!»
Thursen schließt die Augen, stöhnt. «Gut.» Er nickt mir zu. Dann befiehlt er: «Los! Haut ab! Alle!»
Norrock lächelt mir zu und klopft Thursen auf die Schulter. Der Wolf mit dem Ohrring läuft neben ihm, Jerro und Fath kommen angesprungen. Dann scheucht er Lurnak hoch. Einen Moment später ist Norrock, von den Wölfen umtanzt, aus meinem Blickfeld verschwunden.
«Komm, wir gehen ein Stück», sagt Thursen, als wir endlich allein sind. Er reibt sein Gesicht mit den Händen, marschiert dann los, hinein in den Wald, als könnte er vor Ärger, Müdigkeit und Unruhe nicht stillhalten. Ich folge ihm durchs nasse Herbstlaub. Eine schwarze Krähe fliegt auf. Trifft sich mit ihren Freunden in den fast schon kahlen Zweigen einer Buche zu lautem Gekrächz. Schwere Tropfen fallen auf uns herab, als sie sich niederlässt. Ich versuche, das Wasser abzuschütteln, das mir kalt durch die Haare läuft. Aber Thursen, auch getroffen, merkt gar nichts. Weiter und weiter läuft er durch den weglosen Wald. Einmal stoppe ich, weil etwas raschelt im Laub, zu meinen Füßen. Vielleicht eine Maus? Sie flieht wohl vor Thursens langen, wütenden Schritten, die jetzt so gar nicht lautlos sind. Ich haste weiter, um bei ihm zu bleiben. Er scheint so in Gedanken, dass er sich nicht einmal umsieht, ob ich folge. Er tritt aus dem dichten Wald herausund kommt endlich zur Ruhe. Vor uns liegt, den Wurzelballen hochgekippt, der Stamm eines uralten Baumes, mit ein paar abgebrochenen Aststümpfen und fast überall schon ohne Rinde. Thursen lässt sich darauf fallen, und auch ich setze mich erschöpft, ein Stück weiter Richtung Krone. Nicht direkt neben ihn, lieber nicht. Ich könnte nicht ertragen, dass er von mir wegrückt, weil er meint, ich komme ihm zu nahe. Eine Amsel zwitschert, und die Luft riecht immer noch frisch gewaschen. Ich weiß nicht genau, wohin Thursen mich geführt hat. Wir müssen auf einem Hügel sein, denn weit unter uns spiegelt der Wannsee den bleigrauen Himmel. Zwei Boote mit weißen Segeln sind unterwegs, nutzen die Pause zwischen den Regengüssen. Ich folge mit Blicken ihrem Kurs, will Thursen Zeit geben, damit er von selbst beginnt, mit dem Erklären. Aber er bleibt stumm.
«Was wollte Norrock mir sagen?», frage ich, versuche, so zu klingen, als sei es nicht wichtig. Meinen Blick lasse ich bei den Booten. Da kommt ein drittes, eben war es für mich noch von Zweigen verdeckt, das sich in V-förmiger Bugwelle schnell an die anderen heranschiebt.
«Nein», murmelt Thursen, wohl mehr zu sich selbst.
Ich kratze ein Moosstück von dem Stamm, auf dem wir sitzen. Und noch eins. Mein Fingernagel hinterlässt helle Spuren auf dem feuchten Holz. «Warum antwortest du nicht?»
Er hat die Knie hochgezogen, die Arme um die Beine geschlungen. Seine Haare rutschen ihm nach vorn ins Gesicht. Er sieht mich nicht an. «Warum bist du wiedergekommen?», murmelt er.
«Wegen dir, kannst du dir das nicht denken?» Endlich sieht er zu mir her, sieht mich an. Das soll er auch, wennich schreie. «Verflixt, Thursen, du kannst mich doch nicht so einfach wegschicken, so ohne Erklärung!»
Er kneift wütend die Augen zusammen. Springt auf, baut sich vor mir auf, die Hände zu Fäusten geballt. «Wegen mir, ja? Du willst mit mir zusammen sein? Du hast ja keine Ahnung, auf wen du dich einlässt!»
Ich bin noch lauter. «Warum sagst du es mir dann nicht?»
Er sagt nichts. Beißt die Zähne zusammen, als müsste er das, was er mir an den Kopf werfen wollte, kauen. Und stumm herunterschlucken. Er starrt mir in die Augen. Tritt mit voller Wucht gegen den Baumstamm, von dem er eben aufgesprungen ist. Dann setzt er sich wieder. Seufzt, als würde er all seine Wut ausatmen. Seine Schultern fallen nach vorn, er sieht plötzlich leer und müde aus. «Weil es mehr ist, als du aushalten kannst», sagt er leise.
«Woher weißt du, was ich aushalte?»
Er legt
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