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Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Titel: Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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Denke ich. Es ist doch schon mehr als genug!
    «Unsere Vergangenheit löst sich auf.»
    «Wie bitte? Reicht das mit den Farben noch nicht?» Ich spüre, wie ich wieder zu zittern beginne. Nicht nur vor Kälte. Ich schlinge meine Arme um meinen Körper und beuge mich vor, um das letzte bisschen Wärme festzuhalten.
    «Hör mir zu und lauf nicht wieder weg», sagt Thursen. «Ich habe dir von dem Kummer, der Verzweiflung erzählt, die uns alle hierher getrieben hat.»
    Ich nicke.
    «Wir vergessen das. Alles. Wir lassen unsere ganze, beschissene Vergangenheit hinter uns.»
    «Alles?», nuschele ich, weil meine Zähne klappern wollen.
    «Mit jedem Mal, mit dem wir zum Wolf werden, verlieren wir etwas mehr von unserer Vergangenheit.» Sanft und weich malen seine Hände Bögen in die Luft. Seine Gesten sollen mich beruhigen und können es doch nicht. «Es ist einfach nicht mehr wichtig. Hört auf, ein Teil von uns zu sein.»
    Hört sich so harmlos an. Zu harmlos. «Was genau verliert ihr?» Meine Zunge klebt in meinem trockenen Mund fest.
    Er versucht zu lächeln. «Die Angst. Die schrecklichen Träume. Die Erinnerung, was uns verletzt hat. Aber auch anderes. Wir vergessen langsam, wer wir waren, woher wir stammen. Bei der dritten Verwandlung spätestens haben wir unsere alten Namen vergessen.»
    Das reicht. Noch mehr, und ich renne schreiend weg. Noch mehr, und ich werde verrückt.
    «Willst du noch mehr wissen?», fragt er.
    Sag mir nur eins, denke ich. Sag, dass ich träume. Sag, dass es nicht wahr ist. «Nein. O nein, bitte nicht. Nein, das reicht mir.»
    Ich stehe mühsam auf. Zu schwer ist mein Kopf, voller Gedanken. Stakse steifbeinig vorwärts. Ich muss hier weg.
    «Soll ich doch noch ein Stück mitkommen?», fragt Thursen.
    Ich zögere, nicke dann. Schweigend gehen wir nebeneinander durch den Wald, mehr Abstand diesmal, weichen tief herabhängenden Zweigen aus. Auf dem nassen Wanderweg, unter der Laterne, von der dicke Tropfen plätschern, bleiben wir stehen. Thursen spiegelt sich in einer Pfütze. Fast erwarte ich, dass sein Spiegelbild einen Wolf zeigt. Aber es ist doch nur sein vertrautes schmales Gesicht mit den regennassen Haarsträhnen.
    Er lehnt sich mit gekreuzten Armen an den Laternenpfahl. Weiß wohl, dass er mir jetzt nicht näher kommen darf. «Wenn du gehst, Luisa», fragt er leise, heiser, «kannst du dann noch wiederkommen?»
    «Ich weiß nicht. Ich muss nachdenken.»
    «Ich vertrau auf dich. Du bist stark und mutig. Denkst alles bis zum Ende, drückst dich nicht vor schwarzen Gedanken und malst dir nicht die Wirklichkeit schön. Wir sind Werwölfe, Luisa, keine normalen Menschen mehr, und nichts wird das ändern.»
    Ich nicke. Was soll ich bloß tun?
    Thursen spricht aus, was ich denke: «Du solltest nicht mehr kommen. Es wäre besser.»
    Ganz behutsam, um mich nicht zu erschrecken, kommt er auf mich zu. Ich gebe mir Mühe, nicht zurückzuweichen. Er hat es nicht verdient, dass ich vor ihm fliehe, und wenn er hundertmal kein Mensch mehr ist. Nicht nach dem, was er für mich getan hat. Er zieht mich an sich und streicht mir übers Haar. Dann gleiten seine Hände meine Arme herunter, und er nimmt meine eiskalten Hände in seine warmen, drückt sie, ist so nah. Ich versuche, ganz normal zu atmen, spüre, wie seine Hände noch mehr als meine zittern. «Ist das unser Abschied, Luisa?», flüstert er.
    Ich weiß es nicht. Bin noch wie betäubt von dem, was er mir erzählt hat. Sein Gesicht, sein krähengraues Gesicht mit den Bleiglanzaugen kommt näher, und ich weiß, ich bin ihm ausgeliefert, kann mich niemals gegen ihn wehren. Wenn der Wolf in ihm hervorbrechen und mich totbeißen wollte, dann könnte er es jetzt tun. Thursen zögert einen Moment und küsst mich dann. Ganz behutsam streicht er mit seinen Lippen über meinen Mund. Unser Abschiedskuss, vielleicht. Ich versuche, den Wolf zu schmecken, aber da ist nichts.
    Er lässt mich los, und einen Moment bleibe ich reglos stehen, atme, bis ich mich von ihm abwende und mich ohne ein weiteres Wort auf den Heimweg mache. Ich kann einfach nicht mehr.
    Ich gehe, Schritt für Schritt, den Wanderweg entlang, Richtung Bahnhof. Dieselbe Strecke, die ich so oft gegangen bin. Alles ist fast wie immer. Nur das nicht: Als ich mich nach ein paar Metern noch einmal umdrehe, sehe ich einen großen schwarzen Wolf im Unterholz verschwinden. Und diesmal weiß ich, dass es Thursen ist, der mich verlässt, der aufhört, Mensch zu sein, sobald ich ihm den Rücken

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