Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
kehre.
Mein Heimweg verschwimmt in Gedanken. Werde ich, kann ich, sollte ich Thursen, den Werwolf Thursen, noch einmal sehen?
Dann bin ich wieder zu Hause. Nicht heil, aber äußerlich unversehrt. Als ich durch die Wohnungstür komme, ist zusammen mit der Sehnsucht nach dem vertrauten Thursen von gestern auch die Sehnsucht nach Fabian wieder da, fast wie eine zu dünne Stelle in der Luft.
Als die Wohnungstür ins Schloss fällt, steht mein Vater plötzlich im Flur. «Wo warst du?», schnauzt er mich an. Baut sich vor mir auf, versperrt den kahlen weißen Flur mit seinen Armen, die Hände in die Hüften gestemmt. Er hat kein Mitleid, gönnt mir keine Pause. Meine Trauer wird Wut.
Wortlos hänge ich meine regennasse Jacke an die Garderobe, während er wartet. Will er etwa wirklich eine Antwort von mir? Ich dachte, es reicht ihm, mich anzufahren.
Er kommt näher und starrt wütend auf mich herab. «Wo du jetzt herkommst, will ich wissen!»
Also gut. «Aus dem Grunewald.» Er soll seine Finger von meiner Schulter nehmen. Das tut mir weh!
Mein Vater würde gerne brüllen, das spüre ich. Aber ertraut sich nicht, weil die Wohnungstür so dünn ist, dass dann die Nachbarn alles mitbekämen. «Was hast du da gemacht?»
Im Regen auf einem Baumstamm gesessen und Unglaubliches gehört. Von einem namenlosen Werwolf einen Abschiedskuss bekommen. Vor meinem Geist läuft ein Film ab mit Bildern, die er alle nicht verstehen würde, die ich ja selbst nicht verstehe. Was soll ich ihm antworten? «Ich wollte allein sein.»
«Ohne Bescheid zu sagen?» Er schiebt mich ins Wohnzimmer, tippt vorwurfsvoll auf den Zettel, der auf dem Couchtisch liegt, unter dem Telefon. «Deine Mutter hat sich Sorgen gemacht!»
Der Zettel liegt über Kopf für mich, aber ich kann ihn mit etwas Mühe trotzdem entziffern. Es sind Telefonnummern von Krankenhäusern. «Ihr habt doch sonst auch nicht gefragt, wohin ich gehe!» Krankenhäuser. Wenn Thursen mich damals nicht zurückgehalten hätte, hätten ihnen diese Nummern auch nichts mehr genützt. Sie sind ein bisschen spät dran mit dem Sorgenmachen, meine Eltern.
«Hast du denn ganz vergessen, was heute war?», fragt mich meine Mutter. Mit dem vollen Wäschekorb unter dem Arm kommt sie aus dem Schlafzimmer.
Heute ist der Tag, an dem Thursen mir gesagt hat, dass er ein Werwolf ist. An dem er mir genau erklärt hat, was das bedeutet. Aber auch das kann sie nicht wissen. Was kann sonst noch wichtig sein? Ich bin doch schon so lange aus der Zeit gerutscht. Übergangslos gleiten meine Tage ineinander in dem grauen Trauernebel. Ich schüttle den Kopf.
«Die neue Waschmaschine sollte geliefert werden!» Mein Vater nimmt den Kalender von der Wand und hältihn mir hin. In seiner geraden, sorgfältigen Handschrift steht da: Elektro Haase, Lieferung 14.00 Uhr. «Die solltest du annehmen. Und du warst nicht da!»
Ich bin vor meiner Mutter in der Küche. Neben dem Kühlschrank steht eine fremde, ätzend weiße Waschmaschine und glotzt mich mit ihrem gläsernen Bullauge an. Langsam komme ich näher. Das kantige Blech liegt unter meiner Hand.
Unsere alte Waschmaschine ist weg. «Wofür brauchen wir denn jetzt auch noch eine neue Waschmaschine? Können wir nicht einmal irgendetwas von früher behalten?» Ich vermisse unsere alte Maschine. Trotz der Flecken an der Tür. Trotz des Quietschens und Jaulens beim Schleudern, das von Monat zu Monat lauter wurde. Wenigstens etwas, das mich an früher erinnert hat. An zu Hause.
«Die alte war kaputt!», sagt meine Mutter. «Sachen halten nicht ewig.»
Es ist doch noch gar nicht so lange her, dass die andere Maschine neu war. Damals, Fabi war noch ziemlich klein, musste sein Lieblingsteddy gewaschen werden. Wir haben die blaugestreiften Gartenkissen im Waschkeller auf den Boden gelegt. Dadrauf haben wir gesessen und aufgepasst, während der schokoladenverschmierte Teddy im Waschwasser seine Runden drehte. Ich musste die ganze Zeit Fabis Hand halten, weil er fast sicher war, dass sein Teddy jetzt ertrinkt.
«Warum konntet ihr die alte nicht einfach reparieren lassen?»
Mutter knallt den gefüllten Wäschekorb auf den Boden. «Werd endlich erwachsen, Luisa. Dinge kommen und gehen. So geht es zu auf der Welt.» Dann dreht sie sich zu mir um. «Kannst du dir eigentlich vorstellen, was heute loswar? Die Wohnung ist leer, auf der Straße der Wagen von der Elektrofirma. Die Leute wollten die Waschmaschine schon wieder mitnehmen! Ich konnte sie gerade noch stoppen!
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