Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
kippe.
«Du hast jetzt einen Freund, stimmt’s?», sagt Anja ganz beiläufig, als sie mir die Tasse aus der Hand nimmt und nachschenkt. «Sind deine Eltern dagegen?»
Ich trinke zu hastig und muss husten. «Wie kommst du darauf?»
«Ich sitze oft mit Lilli am Fenster und sehe nach draußen. Sehe, wer kommt und geht. Sehe, wenn du von der Schule kommst und wie eilig du es hast, wieder zu verschwinden. Du kommst spät zurück, und obwohl du müde bist, sind deine Schultern gerader als vorher.» Sie lächelt. «Irgendwie bist du mehr geworden. Weißt du, du warst ganz durchsichtig, als du hierhergezogen bist.»
«Na ja.» Ich nehme mir von dem Kandis. Er klirrt leise, als ich umrühre. Soll ich mit ihr über Thursen reden?
«Und jetzt? Habt ihr euch gestritten?», fragt sie.
«Weil ich nicht weggehe? Ich hab doch Hausarrest.»
«Schon. Aber du siehst trauriger aus, als du solltest. Wieder wie ganz am Anfang. Nein, eigentlich fast noch schlimmer. Glaubst du nicht, er wartet so lange auf dich?»
«Sagst du das auch meinen Eltern?»
«Ist es wichtig?»
«Ja, sehr, für mich zumindest. Aber ich erzähle es dir trotzdem nur, wenn du nichts davon meinen Eltern sagst. Wenn du niemandem was sagst.»
«Luisa, das kann ich doch nicht machen.»
«Versprich es mir!»
«Also gut. Ich verspreche es hoch und heilig. Muss ich irgendeinen Schwur leisten? Früher, als ich noch zur Schule ging, mussten wir immer draufspucken. Muss ich jetzt hier auf den Teppich spucken oder so was?»
«Verarsch mich nicht.»
Sie lächelt. «Entschuldige.»
«Ich hatte so was wie einen Freund. Er weiß nicht, ob ich ihn noch sehen will. Und jetzt hat er vermutlich aufgehört, darauf zu warten.»
«Du hast Schluss gemacht?»
«Nicht so, wie du denkst. Wir haben uns nicht gestritten oder so. Ich habe nur etwas über ihn erfahren, was ich vorher noch nicht wusste.»
«Tratsch?» Sie steht auf und klappert mit einer bauchigen Porzellandose, die auf der Kommode steht. Hält sie schräg und schaut hinein. «Keine Kekse mehr, sorry. Wer hat denn geplaudert? Weißt du, vielleicht stimmt das gar nicht.»
«Es ist nicht bloß Tratsch. Und er hat es mir selbst erzählt.»
«Mutig von ihm. Oder dumm? Jetzt ist er dich los.»
«Nein, er ist mutig. Immer.»
«Geht er in deine Klasse?»
Ich stelle mir Thursen in meiner Schule vor: wie ein düsterer Rabe zwischen Enten. Schnaube durch die Nase. «Nein, bestimmt nicht.»
«Dumme Frage, dann hättet ihr euch ja schon wiedergetroffen. Wohnt er weit weg?»
Ich stehe auf, gehe rüber zum Fenster, wo der Glitzerkristall hängt, der die Sonnenstrahlen ins Zimmer locken soll. Jetzt glitzert nichts. Ist zu grau und trübe draußen. Ich sehe trotzdem raus. «Frag was anderes.»
«Weiß er von deinem Bruder?»
Meine Hände zittern wieder. Ich starre in die Tasse, wo der Tee kleine Kräuselwellen schlägt. Meine Stimme klingt gequetscht. «Klar.»
«Und? Was hat er gemacht?»
Alles ist wieder da. Der Blick runter vom Turm. Wie Thursen mich packt, festhält. Seine brennenden Augen und mein Versprechen. Was hat er gemacht? Alles. Er hat gemacht, dass ich jetzt hier sitze, dass ich lebe. Und dass ich so leide, ihn so vermisse, das hat er auch gemacht.
Anja kommt neben mich, berührt mich an der Schulter. Sie reicht mir ein Taschentuch. «Ich mein ja bloß, ob er wenigstens versucht hat, dich ein bisschen zu trösten?»
Meine Tasse klappert leise, als ich sie auf die Fensterbank stelle. Ich schniefe ins Taschentuch und wische meine Tränen weg. «Das ist bei mir wohl nicht so einfach.»
Anja streicht mir über den Arm. «Ich glaube, er ist ein netter Kerl. Viele laufen weg, wenn sie jemanden treffen, der so leidet wie du. Wollen sich lieber amüsieren, mit lustigen Mädchen.»
«Ich weiß. Nein, so ist er nicht.»
Die Gegensprechanlage quäkt. Lilli wacht davon auf, blinzelt, rudert mit den Armen, rekelt sich. Anja läuft zu ihr, hält die Kleine fest, bevor sie vom Sofa rutscht.
«Das ist Lotti. Bleibst du noch?», fragt mich Anja und hebt die verschlafene Lilli auf die Hüfte.
Ich nicke und folge Anja in den Flur. Wo soll ich auch sonst hin? Lotti ist inzwischen an der Wohnungstür, außer Atem und schmutzverschmiert. Lässt ihre Jacke vor meinen Füßen auf den Boden rutschen und verschwindet im Bad. Anja stöhnt, ich hebe für sie die Jacke auf und hänge sie an die Garderobe. «Lenk dich ein bisschen ab,Luisa», sagt Anja und lächelt mir zu. «Gib dir Zeit, alles zu verarbeiten.»
Dann backen
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