Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
Fernseher weiterlaufen und zappe mich durch die Kanäle. Drücke eine Talkshow weg, fliehe vor einem quietschbunten Kinder-Manga, gucke genervt ein Stück Zoodoku mit einem Panther und einem toten Zebra. Ich gerate in ach so wichtige Börsennachrichten und stolpere immer wieder in die Werbung. Eine vertane halbe Stunde später schalte ich den Fernseher aus.
Hausarrest. Ich darf nicht raus. Ich bin so weit, dass ich mich gefangen fühle wie ein Panther im Zoo. Fühle mich, als hätten die Fenster in unserer Wohnung Gitterstäbe, hart, eisern und kalt. Will meine Nägel wie Krallen in die Tapete schlagen, die Wände hinaufspringen. Kann es sein, dass die Wände näher kommen? Dass die Zimmerdecken die Luft zusammendrücken?
Ich muss hier raus. Sofort.
Erst im Hausflur fällt mir ein, dass ich nicht in den Wald kann. Nicht weiß, wohin. Das Haus nicht verlassen darf. Ich versuche ja, meine Eltern nicht zu sehr zu ängstigen. Versuche es wirklich. Meistens. Ob die auch nur eine Ahnung davon haben, wie schwer das ist? Ob Sjölls Eltern Angst um sie haben? Ob Karrs ihren Sohn vermissen?
Anja. Mein Fuß schiebt sich schnell in die Wohnungstür, ehe sie zufällt. So kann ich noch einmal zurück und meinen Eltern einen Zettel schreiben. «Bin unten» steht da. Ich lege ihn neben das Telefon. Es ist der Zettel mit den Nummern der Krankenhäuser, ich habe die leere Rückseite benutzt. Dann lasse ich die Wohnungstür endgültig hinter mir zuknallen. Laufe hastig die Stufen hinunter zur Wohnung unter unserer. Presse den Finger auf die Klingel.
Warte ungeduldig, als könnte mich der Straßenlärm zur Haustür hinauszerren, mich von meinem Vorsatz, den Hausarrest einzuhalten, abbringen. Endlich geht die Tür auf. Anjas Gesicht erscheint und sie lächelt. «Da bist du ja!», sagt sie. Als wäre es selbstverständlich.
Ich zucke die Schultern. «Meine Eltern haben Hausarrest gesagt. Nicht Wohnungsarrest.»
Sie lässt mich ein und kocht uns beiden eine Kanne Tee. In blauem Stoff und hellem Holz und Regenbogenfarben grüßt das Wohnzimmer, dessen Wände reich behängt sind mit gerahmten Blumenfotos von Anja und Kinderzeichnungen von Lotti. Anja zündet eine Duftkerze an und stellt sie oben aufs Klavier. Das stammt noch von ihrer Oma, wie sie mir erzählt. Ich sitze in einem Sessel und wärme meine immer klammen Hände an dem Früchtetee, während der Duft von Zimt die Wohnung füllt. Werde mit jedem Atemzug ein bisschen ruhiger, nippe an demgesüßten Tee. Sehe zu, wie Anja mit Lilli auf dem Sofa sitzt, gegen ein geblümtes Kissen gelehnt, aus ihrer Tasse trinkt, wie sie Lilli aus Lottis Lieblingsbuch mit den rosa Feen vorliest, bis der Kleinen die Augen zufallen.
Nach einem Moment Stille frage ich Anja, was ich die ganze Zeit schon wissen will: «Warum hast du mich gefragt, ob ich runterkommen will? Ich war nicht gerade nett zu dir.»
«Du hast dich um Lotti gekümmert, und jetzt dachte ich, ich sollte mich mal um dich kümmern. Du sahst aus, als würde dich etwas kochend Heißes von innen verbrennen. Lava», ihre Hände zeichnen Flammen in die Luft. «Als wärst du ein Vulkan, der nicht ausbrechen will, weil er dann alles verbrennt, und der doch muss.» Sie lächelt schief. «Ich wollte nicht, dass du unser Haus niederbrennst. Da wohne ich nämlich auch drin.»
«Ich habe das ganze Haus ja schon mit meiner Musik zum Wackeln gebracht, und es steht immer noch. Tut mir leid, das mit dem Lärm. Und du hattest auch noch Kopfweh.»
Anja fasst sich an die Stirn, wie um zu fühlen, ob sie den Kopfschmerz noch ertasten kann. Sie zuckt die Schultern. «Jetzt, wo die Musik aus ist, ist es okay.»
Ich drehe die inzwischen leere Tasse in meinen Händen. «Erzählst du das mit der Musik meinen Eltern?»
«Muss ich das?», fragt sie.
Ich versuche, Anja einzuschätzen. Taste ihr Gesicht mit Blicken ab. Die schulterlangen braunen Haare, die blauen Augen unter den gewölbten Brauen. Ungeschminkt, gerade und klar. Sie ist bestimmt nur etwas über zehn Jahre älter als ich. Zu wem hält sie? Zu mir? Oder im Zweifelsfall doch zu meinen Eltern, weil sie selbst Mutter ist? «Hältst du den Mund, damit ich nochmal auf Lotti aufpasse?»
«Nein. Ich kann und will mich nicht gegen deine Eltern stellen. Wenn etwas Wichtiges passiert, sollten sie schon davon wissen. Ich finde das mit der Musik nur nicht wichtig.»
«Hm.» Ich nicke und starre in meinen Teebecher. Der Zuckerrest läuft zäh von einer Seite zur anderen, wenn ich den Becher
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