Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
Tisch und verlässt mit müden Schritten das Zimmer.
«Keinen Hunger?», keucht mein Vater. «Kannst du uns nicht mal eine Atempause gönnen? Kannst du nicht einmal Rücksicht nehmen?» Seine Hände zerhacken wie Beile die Luft. «Ich habe einen anstrengenden Job. Und jetzt muss ich diese Kontoauszüge kontrollieren. Sonst kann uns dieBank sonst was abbuchen. Wie soll ich denn das machen, wenn du mich nicht mal in Ruhe lässt?» Sein Blick wischt über den Brotkorb und die grüne Plastikdose mit dem Käse. «Mir schmeckt das Essen auch nicht, und ich esse trotzdem!»
Da kommt meine Mutter zurück. «Hier!», sagt sie und steckt mir einen Geldschein zu.
«Was soll das?» Mein Vater schlägt mit der flachen Hand auf den Ordnerdeckel. «Fällst du mir jetzt in den Rücken? Luisa hat Hausarrest!»
«Luisa braucht erst mal eine passende Hose», sagt meine Mutter mit müder Stimme. Schlurft zur Küche. «Das mit dem Essen und dem Hausarrest klären wir später.»
«Wir sind eine Familie!», ruft mein Vater ihr hinterher. «Du hast selbst gesagt, wir müssen in dieser schweren Zeit alle an einem Strang ziehen! Luisa will sich nicht einordnen, und du unterstützt sie auch noch dabei!»
«Guck sie dir doch an, Jens!» Meine Mutter, zurückgekommen, lehnt in der Zimmertür und zeigt mit ausgestrecktem Arm auf mich. «Guck hin!»
Er schreit: «Macht doch alle, was ihr wollt! Ich halte das nicht mehr aus», und läuft aus dem Zimmer. Knallt die Tür hinter sich zu, als könnte er so die Probleme davon abhalten, ihm zu folgen. Ich habe nichts anderes erwartet. Natürlich hält er diesen Streit nicht aus. Hält es nicht aus, wenn ihm jemand sagt, dass die Welt nicht nur rosa ist, wenn wir jeden Tag brav und pflegeleicht lächeln! Fabians Krankheit hat er auch nicht ausgehalten. Hat so getan als würde er wieder gesund. Jeden Tag. Bis er seinem Sohn einen Sarg aussuchen musste, wie andere Eltern ihrem Kind ein Fahrrad.
In dieser Nacht träume ich vom Mond. Groß ist er, golden und rund. Er zieht mich in seinen Bann. Zerrt an mir, bis ich nachgebe, zu Boden falle und ihm mein Lied singe. Mein verzweifeltstes Lied. Ein Lied, das aus meinem tiefsten Inneren zu kommen scheint. Ich zittere von der Schnauze bis zu den Pfoten. Ich bin ein Wolf.
Sekunden später spuckt der Traum mich aus. Ich schrecke hoch, atemlos, den Kopf voll Nachtgedanken. Mein Herz hämmert, ich bin wach und doch nicht ganz. Ich schiebe mich aus dem Bett, tappe mit schlaftauben Beinen hinüber zum Fenster, lasse die kühle Luft herein, lasse sie über mein Gesicht streichen. Langsam, mit den Geräuschen der nie schlafenden Stadt kommt mein Denken zurück. Ein paar Sterne über mir schaffen es, trotz der Helligkeit zu leuchten, nicht vom lichtverklebten Großstadthimmel verschluckt zu werden. Berliner Nacht.
Ich bin kein Wolf. Das war nur ein Traum. Aber fast wäre ich einer geworden, an jenem Abend, an dem Norrock mich mit in den Wolfskreis genommen hat. Fühle nochmal, wie die verführerisch prickelnde Werwolfkraft durch mich geflutet ist, als der Kreis sich schloss.
Niemand hat mich gewarnt, mir gesagt, was ein paar Atemzüge später mit mir passiert wäre. Norrock hätte zugelassen, dass ich mich selbst verliere und meine Gestalt wechsele.
Dann hat Thursen mich aus dem Kreis gerissen, den Zauber gebrochen.
Was, wenn er zu spät gekommen wäre? Hätte ich mich in eine gefährliche Bestie verwandelt? Einen tödlichen Jäger mit scharfen Zähnen? Oder wäre die Tiergestalt nur ein Weg, dem Seelenschmerz zu entfliehen? Wäre ich überhaupt so anders?
Tausend Fragen.
Thursen schläft jetzt bestimmt irgendwo als zottiger Wolf unter einem Baum. Unter denselben Sternen, die in mein Zimmer scheinen. Atmet dieselbe kühle Nachtluft.
Wo ist das Rudel? Schlafen sie einzeln oder aneinandergeschmiegt wie Hundewelpen? Verjagen sie sich gegenseitig die Gespenster der Nacht?
Thursen ist ein Wolf. War nie ganz Mensch. Nie der, den ich zu kennen glaubte. Seine Welt ist mir so schrecklich fremd.
Nach der Schule komme ich nur in die Wohnung, um meinen Schulranzen abzustellen, dann fahre ich in das nächste Kaufhaus. Ich kaufe mir eine Hose, und ich kaufe sie schwarz. Aus dem Ankleidespiegel sieht mir ein fremdes Mädchen entgegen. Das soll ich sein? Fast sehe ich schon wie einer von den Wölfen aus. Meine Schatten unter den Augen sind beinahe so tief wie Thursens. Werde ich blasser? Oder kommt das nur von den längeren Haaren, die nach vorn fallen und mir das
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