Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
scheint nur fröhliche Häuser für fröhliche Familien zu haben. Wir finden für Sie genau das Haus, das Sie suchen, steht da. In fetter roter Schrift. Finden die auch traurige Häuser?, denke ich. Häuser mit viel Platz für all den Kummer, der sich angehäuft hat? Den man mit hineinnehmen muss, in das neue Haus, weil man ihn nicht so einfach auf der Fußmatte abstreifen kann?
Endlich dusche ich. Wasche mir die Walderde von der Haut und etwas von der Trauer um Sjöll. Wasche meine Werwolfsgeschichten ab und alles, was mich mit Thursen verbindet. Stecke meine Klamotten in die fremde, neue Waschmaschine und hänge sie anschließend waschmittelsauber zum Trocknen auf. Mein Vater kommt nicht wieder zurück, und meine Mutter verlässt das Schlafzimmer nicht mehr. Ich bleibe den Abend über im meinem Zimmer. In der Nacht träume ich von Thursen.
Aus meinem Leben kann ich ihn draußen halten, aus meinen Träumen nicht. Doch der Traum ist ein Albtraum. Ein schwarzer Wolf läuft durch den Wald. Ziellos, heimatlos. Sucht etwas. Mich. Ich bin es, die er sucht. Aber er kann mich nicht finden, weil wir in zwei Welten nebeneinander existieren. Getrennt voneinander wie zwei Buchseiten. Dann sieht er mich doch und ich ihn. Ein Jäger verfolgt ihn, mit einem tausendläufigen Gewehr. Die tödlichen Kugeln zischen um ihn, und ich weiß, ich muss nur das eine Wort sagen, das ihn zu mir holt. In meine Menschenwelt, ihn zum Mensch macht und rettet. Es liegt mir auf der Zunge. Sein Name!
Schweißgebadet erwache ich. Es ist fünf Uhr früh. Ich gehe etwas trinken und versuche dann weiterzuschlafen. Versuche wieder einmal zu verdrängen, dass ich einen Thursen kannte. Nicht den Traum-Thursen. Einen Thursen, der nicht Mensch sein will. Ich lasse die Wolf-Sorgen hinter mir. Ist das nicht der Sinn? Sich verwandeln und Wolf werden, um die Sorgen zu vergessen?
Heute gehe ich in die Schule. Ein ganz normales Leben. Ein ganz normaler Alltag. Ich kann mich an meinen Stundenplan nicht mehr erinnern.
Als ich am Morgen aus dem Bad komme, überrascht mich meine Mutter mit einer Tüte. Sie hat mir Klamotten gekauft. Jeans und einen türkisfarbenen Pullover. Nette, farbenfrohe Kleidung für ein nettes, frohes Mädchen. Die Jeans sind steif an den Knien, und der Pulli kratzt. Der Stoff riecht fremd und kalt, als ich die Preisschilder abschneide. Um meiner Mutter einen Gefallen zu tun, trage ich trotzdem beides, als ich mich zu ihr an den Esstisch setze.
Frühstück ist seltsam, so leer am Tisch. Lange Zeit waren wir vier, dann drei, und jetzt sitzen hier nur noch meine Mutter und ich.
«Die neuen Sachen stehen dir», sagt meine Mutter. «Besonders der Pullover.»
«Wenn du meinst.» Ich nehme mir ein Schälchen, fülle etwas Müsli hinein. «Weißt du, wo Vati ist?», frage ich und rühre in meiner Müslischüssel.
Mutter streicht sich ein Honigbrot. Sorgfältig, bis in die letzten Ecken. «Er kommt schon wieder. Bestimmt. Mach dir keine Sorgen.»
Ich beobachte sie. Wie sie mich anlächelt mit ihrer aufgesetzten Zuversicht. «Warum sagst du so was?»
Sie legt ihr Messer auf den Teller. «Was willst du von mir hören? Dass er uns verlassen hat? Luisa, willst du denn nicht, dass er zurückkommt?»
Ich klaube eine Rosine aus meinem Müsli und stecke sie in den Mund. Lutsche daran herum. «Es geht doch nicht danach, was ich mir wünsche!»
«Wenn man erst anfängt zu zweifeln, dann geht es auch schief. Glaub mir! Und dann hat man selbst Schuld.»
«Sieh doch einmal die Dinge so, wie sie sind. Einmal, Mama! Bitte!» Mein Löffel klirrt am Porzellan.
«Und, wie sind die Dinge? Hat Vati dich angerufen und dir gesagt, dass er nicht mehr kommt?»
«Nein.» Ich finde eine zweite Rosine.
«Siehst du.» Meine Mutter balanciert ihr Honigbrot wieder auf den Fingern und beißt hinein. Kaut hastig. «Also vertraue ich darauf, dass er zurückkommt.»
«Wird er nicht.»
«Ach, Luisa. Du könntest doch auch mal etwas dafür tun, dass er wiederkommt.» Noch ein Honigbrotbissen. «Entschuldige dich bei ihm. Zeig ihm, dass er dir wichtig ist. Väter mögen das.»
«Mama! Er hat mir gestern eine geknallt!»
«Das hat er nicht so gemeint. Wir versuchen doch, alles von dir fernzuhalten. Vati besonders. Damit du nicht so leiden musst wie wir.»
«Weißt du was? Ich bin Vati herzlich egal. Der braucht mich nur, um seine Wut an mir auszulassen!»
Meine Mutter hält vor Schreck das Brot schief, sodass der Honig auf den Teller tropft. «Aber du bist doch
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