Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
Thursen, während dieser die Stöcke, an denen wir unser Fleisch gebraten haben, zusammenräumt. Da holt Norrock die Kerze im Glas. Entzündet zum ersten Mal seit Sjölls Tod wieder das Windlicht.
«Wieso machst du die Kerze an?», frage ich.
«Sjölls Licht», sagt er, schwenkt auf Raucherart das Streichholz, sodass es ausgeht. Dann stellt er das Glas mit fast feierlicher Geste auf einen Baumstumpf.
«Auf einmal gibt es Licht? Wieso habt ihr es nicht schon vorher angezündet?»
Er verzieht spöttisch das Gesicht. «Vorher hatte ich keine Streichhölzer», sagt er, ohne den Blick von der Flamme zu nehmen.
Sehr witzig! Ich dachte, es ist so einfach, welche zu besorgen?
«Thursen?», frage ich.
Die Stöcke noch in der Hand, hat er Norrock zugesehen. Als ich ihn anspreche, dreht er sich zu mir und schaut mich an, als hätte ich ihn geweckt. Er atmet schwer, legt mir die Hand auf die Schulter. «Wir müssen los, Luisa», sagt er.
«Wir?»
«Wir Wölfe.» Er lehnt die Stöcke gegen einen Baumstamm und kommt dann zu mir.
«Nicht wieder jagen!»
Sein Blick streift über das Lager, sein Rudelführerblick. Dann sieht er wieder mich an. Schüttelt lächelnd den Kopf. «Nein, wir jagen nicht. Keine Angst.»
«Wohin dann?»
Er zupft mir ein trockenes Blatt aus den Haaren und zerreibt es zwischen den Fingern. «Na ja. Wir laufen einfach herum. Sehen, hören, riechen, was so los ist.» Dann bemerkt er die Frage in meinem Gesicht. «Entschuldige, ich bin müde von letzter Nacht. Ich erkläre es dir später. Wartet hier auf uns, du und die Kleine, bis wir zurück sind.» Er legt seine Hand an meine Wange und sieht mich an. «Bitte.»
«Wenn es so wichtig ist.»
«Ja», sagt Thursen. «Es ist wichtig.» Dann dreht er sich zu den anderen Wölfen, tauscht Blicke mit ihnen, deren Bedeutung ich nicht kenne, und nickt ihnen zu. Sieht dann zu Norrock, der immer noch dasitzt und sich in der gelb leuchtenden Flamme der Kerze verliert.
«Norrock?», fragt Thursen.
«Mhm», brummt der. Steht auf und streicht sich mit den Händen über das Gesicht, während Thursen mit den anderen Wölfen voraus zum Wald geht. «Pass auf Zrrie auf undsieh zu, dass Sjölls Kerze nicht ausgeht, ja?», sagt Norrock zu mir, ehe er Thursen folgt. Ruft vom Wald her nochmal: «Fasst die Kerze nicht an!» Dann verwandelt sich auch Norrock. In den riesigen schwarzen Wolf, der mich bei unserer ersten Begegnung in den Fuß gebissen hat. Verschwindet zwischen den Bäumen.
Und ich bleibe wieder als Aufpasser für das neue Mädchen zurück.
Was erwarten sie von mir, Thursen und Norrock? Soll ich Zrrie vom Baum pflücken, wie Norrock, wenn sie noch einmal hinaufsteigt? Soll ich ihr nachjagen, wenn sie Wolf wird und in den Wald davonspringt?
Ich sehe sie an. Nicht mehr Gabriella, jetzt ist sie Zrrie. Blass sieht sie aus, als hätte ihr jemand die Farben weggewaschen. Selbst ihre Haarfarbe ist anders.
«Weißt du, wo die anderen hin sind?», frage ich. Kämpfe mit einem Gähnen. Ich bin immer noch müde. Den ganzen Tag schon.
«Weiß ich nicht.» Sie sitzt vor dem Baumstumpf auf dem Boden und betrachtet die Kerze, als könnte sie sie durch bloße Willenskraft davon abhalten, auszugehen. Dabei ist es ganz unnötig. Die Flamme flackert nicht einmal.
«Ich müsste eigentlich mal wieder nach Hause.»
«Nein, Luisa! Du musst hierbleiben!»
«Mensch, Zrrie! Ich war die ganze Nacht weg! Meine Mutter dreht durch, wenn ich mich nicht bald sehen lasse!»
Endlich sieht sie mich an. «Aber du gehst doch nicht vor Mitternacht, oder?»
Moment mal! Mitternacht? Mitternacht am Nevada-Haus? Wäre ich nicht so müde, hätte ich schneller begriffen. «Wer passt hier eigentlich auf wen auf?»
«Norrock und Thursen haben gesagt, ich soll dafür sorgen, dass du hierbleibst.»
«Wieso?»
Ihre Hände fummeln am Reißverschluss ihrer Jacke. Ziehen ihn auf und zu. «Sie wollten nur nicht, dass du ihnen folgst! Weil das gefährlich sein könnte.»
«Gefährlich? Sie begeben sich schon wieder in Gefahr?»
«Für sie ist es nicht gefährlich, sagt Norrock. Au!»
Sie hat sich den Finger im Reißverschluss geklemmt.
«Sondern?»
Zrrie lutscht an ihrem schmerzenden Finger. «Ich glaube, sie meinten, es wäre gefährlich für dich. Du bist ja kein Werwolf. Du hast dich doch noch nie verwandelt! Du weißt nicht, wie das ist!»
«Zrrie, was ist heute um Mitternacht am Nevada-Haus?» Ich gehe zu dem Baumstumpf und hebe das Windlicht hoch. «Und was soll das mit der
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