Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
ziehen wie immer. Doch ich trage meinen Ärger vor mir her wie einen Schild, der mich davor bewahren soll, verletzt zu werden. Ruppig reiße ich mir die Jacke runter und werfe sie auf den Stuhl im Flur. «Ich war heute im KaDeWe.»
«Lass uns raufgehen. Da können wir reden», sagt er und fügt leise hinzu: «Mein Vater ist da.»
Seine Möbel sind in der Mitte des Zimmers zusammengeschoben. Kleiderschrank, Bücherregal und Schreibtisch bilden eine Insel, über der eine durchsichtige Plane hängt wie ein Zelt. Nur sein Bett, direkt neben die Rückseite des Kleiderschrankes geklemmt, ist noch frei.
«Stolper nicht über die Rolle», warnt mich Thursen. Da bin ich schon mit einem großen Schritt über die Abdeckpappe hinweggestiegen.
«Wann wolltest du mir denn sagen, was du wirklich vorhattest heute?»
«Du wolltest doch, dass ich etwas unternehme. Das habe ich getan. Es wird keine Toten mehr geben.»
«Und woher weißt du das so genau? Schließlich ist Norrock jetzt Rudelführer. Du hast mir doch lang und breit erklärt, dass du nur noch ein Mensch bist und nichts mehr zu sagen hast?»
«Ja, verdammt. Und?»
«Ich habe dich mit Krestor gesehen. Und diesem Jungen mit der Mütze. Norrock war gar nicht dabei.»
«Sie wussten, wo Norrock ist.»
«Dann seid ihr also zu ihm? Und weiter? Habt ihr euch wieder geprügelt?» Ich fasse automatisch nach seinem Shirtsaum, um mich selbst zu überzeugen, dass er nicht wieder blaue Flecken hat.
Er nimmt meine Hand und hält sie fest. «Lass das. Wir haben geredet, Luisa.»
Ärgerlich befreie ich meine Hand. «Hat er dir von seinem neuen Hobby erzählt? Menschen jagen?»
«Norrock musste töten.»
«Und warum?»
Er bleibt stumm.
Soll ich die Wahrheit aus ihm herausschütteln? Ich stelle mich so nah vor ihn, dass wir uns fast berühren, und starre ihm in die Augen. «Warum, Thursen?»
Er legt mir eine Hand auf die Schulter. «Luisa, das verstehst du nicht!»
Am liebsten würde ich ihn schlagen, so wütend bin ich. Bin ich ein kleines Kind, das man besser aus allem raushält? Ich schüttle seine Hand ab. «Es ist kein Wunder, dass ich nichts verstehe, wenn du mir nichts sagst!»
«Bitte», seufzt er, als sei er plötzlich unendlich müde. «Frag einmal nicht nach.»
«Seit Silvester hältst du mich aus irgendwas raus, und ich weiß nicht, was es ist! Du sagst, du liebst mich. Du sagst, wir werden zusammen ein neues, normales Leben beginnen. Und dann schließt du mich aus deinem aus. Sind wir überhaupt noch zusammen, oder lebst du schon dein eigenes Leben, ohne mich?»
«Luisa, hör auf!» Er spricht jedes Wort überdeutlich. Doch die Drohung darin facht meine Wut erst recht an. Ich will meinen Thursen zurück! Ich will die Vertrautheit zurück, die wir hatten. Und wenn das hier das Ende unserer Liebe ist, dann will ich nicht kampflos untergehen.
«Ich will jetzt die Wahrheit hören! Du redest mit Norrock, aber nicht mit mir. Weißt du, wie sich das anfühlt?»
Offenbar habe ich Thursen endlich so weit, dass er genauso kocht vor Wut wie ich. Grob fasst er mich bei den Schultern. Seine Stimme wird tiefer und noch heiserer. So, als läge ein Knurren unter seinen Worten. «Du willst die Wahrheit hören? Gut! Norrock hat das Rudel nicht einfach so übernommen. Er musste den Wölfen einen Eid schwören. So wie jeder Leitwolf vor ihm.» Thursens Blick bohrt sich in meinen und bannt ihn. Als ob ich wegsehen wollte! Jetzt, wo er endlich zu reden anfängt! «Und er musste einen Menschen töten», fährt Thursen fort. Die Worte dringen nur langsam zu mir durch. Es war kein Unfall, keine Jagd, die außer Kontrolle geriet. Ich erinnere mich, wie versessen Norrock darauf war, endlich Leitwolf zu werden. Ich weiß noch genau, wie wir gemeinsam am Feuer saßen, als Norrock mir davon erzählt hat. Fast als wären wir Freunde. Und dabei wusste er sicher immer, welchen Preis er dafür zahlen muss. Aber das war ihm egal. Mich schaudert.
«Wie fühlst du dich jetzt?», sagt Thursen. Immer noch mit dieser Wolfsstimme. «Entscheide dich in Zukunft. Besser, du glaubst mir, wenn ich dir sage, dass du etwas nicht hören willst. Die Wahrheit ist manchmal furchtbarer, als man sie erwartet.»
«Aber davon, dass ich etwas nicht weiß, wird es nicht ungeschehen! Es ist passiert! Warum sollte ich also nicht davon wissen?»
Thursen hält mich immer noch in seinem eisenharten Griff. «Weil deine Welt eine andere ist, wenn du weißt, was passiert ist.»
«Ich wusste immer, dass Norrock
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